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8. Tag

18. Februar 2011

Man kann dem deutschen Kino nicht vorwerfen, es setze sich nicht mit der jüngsten Vergangenheit auseinander. Andres Veiels neuer Film "Wer wenn nicht wir" erzählt, wie Gudrun Ensslin zur Terroristin wurde.

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Jochen Kürten (Foto: DW)
Jochen KürtenBild: DW

Auch dieser Film wird wieder seine Kritiker und Befürworter finden. Einige werden ihn zu konventionell finden, andere werden loben, dass er auch ein breiteres Publikum anspricht. Andres Veiel kennt sich aus im Thema, das dürfte niemand bestreiten. Veiels zu Recht hochgelobte und vielfach ausgezeichnete Dokumentation über die Geschichte des bundesdeutschen Terrorismus "Black Box BRD" hat einen wichtigen Beitrag zur filmischen Aufarbeitung des "Deutschen Herbstes" beigesteuert.

Filmstill Wer wenn nicht wir von Andres Veiel © Markus Jans / zero one film
Solide erzählt: "Wer wenn nicht wir" von Andres VeielBild: Internationale Filmfestspiele Berlin

Nun also ein erster Spielfilm. Alle waren gespannt im Berlinalepalast, ich war auch sehr gespannt. Der Regisseur konzentriert sich auf zwei Figuren der jüngeren deutschen Zeitgeschichte, den Schriftsteller Bernward Vesper, Sohn des Blut-und-Boden-Dichters Will Vesper, und auf Gudrun Ensslin. Es ist die Vorgeschichte des Terrors, von der Veiel erzählt, er wirft Schlaglichter auf persönlich prägende Ereignisse der beiden, vor allem während der 1950er und 1960er Jahre. Vesper und Ensslin waren damals ein Paar, hatten ein gemeinsames Kind, bis Andreas Baader die Beziehung stört und Ensslin auf seine Seite zieht. Ensslin, die aus einem streng protestantischen Elternhaus stammt, wird zunehmend radikaler. Vesper hingegen zieht sich mehr und mehr zurück, zerbricht schließlich an der eigenen Vita, am Elternhaus, an der Erziehung, zerrieben zwischen der Liebe und der Achtung zum Vater und der wachsenden Erkenntnis, dass dieser doch den Nationalsozialismus leidenschaftlich unterstützt hat.

Flucht aus dem Kinosaal

Ich war fast dankbar für diesen konventionell, solide erzählten Film am vorletzten Wettbewerbstag und war mit diesem Gefühl nicht allein. Das ließ sich schon daran sehen, dass niemand den riesigen Berlinale-Palast vor dem Abspann verließ. Das war die Ausnahme, viele Journalisten ergriffen in den vergangenen Tagen während der Vorstellungen die Flucht. Freilich kein gutes Zeichen für den Wettbewerb eines solch großen und renommierten Festivals. Vielleicht sollten sich die Auswahlgremien, die die Filme in den Monaten vor der Berlinale zusammenstellen, für die Zukunft ernsthafte Gedanken machen über diesen Schwund. Denn es sind längst nicht nur ein paar Ausnahmenörgler, die die Säle verlassen. Der südkoreanische Beitrag "Kommt Regen, kommt Sonnenschein", die südamerikanisch-deutsche Co-Produktion "Rätselhafte Welt", beides wenig überzeugende Beziehungsdramen, der israelisch-britische Film "Odem", eine unausgegorene, visuell wenig beeindruckende Erzählung um zwei ehemalige palästinensische Freundinnen im heutigen London - all diese Filme aus den letzten Tagen hatten unter diesem "Zuschauerschwund" zu leiden.

Großes Festival - schwacher Wettbewerb

Was sagt uns das? Die Berlinale bleibt ein wunderbares Filmfestival mit einem überbordenden Programm, das zudem extrem gut organisiert ist. Die Vielfalt ist eine der Stärken der Berlinale, die ja vom Publikum auch angenommen wird. Ob Spiel- oder Dokumentarfilm, ob Kurz- oder Experimentalbeitrag, Retrospektive oder Hommage - das Angebot ist schier unüberschaubar und wer keinen Zwängen unterworfen ist, der kann sich persönlichen Programmpläne zusammenstellen. Doch wer sich, wie ich in diesem Jahr, den kompletten Wettbewerb, das Herzstück des Festivals, angeschaut hat, der wird enttäuscht sein. Und die Berlinale muss sich fragen lassen, welche Qualitätskriterien sie anlegt. Wer auch andere Festivals besucht, der weiß längst, dass sich so manches kleinere und in der Öffentlichkeit viel weniger wahrgenommene Festival nicht mehr hinter der Berlinale verstecken muss.

Filmstill Odem von Jonathan Sagall (Foto: Berlinale)
Wenig beeindruckend: "Odem" von Jonathan SagallBild: Internationale Filmfestspiele Berlin

Es bleiben Fragen an die Veranstalter: Gibt es denn tatsächlich nicht ein Werk aus der großen Filmnation Frankreich, das man hätte zeigen können? Nicht eines aus Italien? Aus Spanien? Kein einziger Film aus Skandinavien, aus dem so quicklebendigen Dänemark? War nichts aufregenderes aus Lateinamerika zu bekommen? Kein Film aus dem Riesenreich China, das trotz Repressionen und Zensur in den letzten Jahren so viele bemerkenswerte Filmemacher hervorgebracht hat? Ist der Markt dermaßen ausgeblutet, dass all die Berlinale-Scouts weltweit nicht fündig werden? Oder sind andere Festivals einfach cleverer oder schlichtweg schneller? Oder gibt es da noch andere Zwänge? Fragen über Fragen ...


Autor: Jochen Kürten
Redaktion: Sabine Oelze