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Berlinale-Tagebuch

19. Februar 2010

Da war er nun, der erste kleine Skandal im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb. "Jud Süß - Film ohne Gewissen von Oskar Roehler. Buhrufe und Pfiffe nach der ersten Vorführung. Was war geschehen?

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Jochen Kürten Berlinale. Eingestellt Februar 2010
Hat jetzt 20 Filme gesehen: Jochen KürtenBild: DW

Wir waren alle gespannt. Der dritte deutsche Beitrag im Rennen um die Bären war wohl der mit der größten Spannung erwartete Film. "Jud Süß" war einer der schlimmsten Propagandafilme der Nazis. Direkt nach dem Krieg verboten, bis heute nur aufgeführt im Rahmen von Seminaren mit Diskussions-Begleitung. Dazu nun der Regisseur Oskar Roehler, bei dem man immer auf alles gefasst sein muss auf Meisterliches ebenso wie auf hemmungslos übersteigertes Melodrama. Die Geschichte des unglückseligen Jud Süß-Hauptdarstellers Ferdinand Marian hat Roehler verfilmt. Nun war der Film fertig, der Rahmen für die festliche Uraufführung mit der Berlinale trefflich ausgewählt.

Lacher über "Hinkefuß"

Schon während der ersten Vorstellung entlud sich die Spannung in eindeutigen Reaktionen. Meine Nachbarn schlugen immer wieder die Hände vors Gesicht. Lautes Stöhnen rechts und Links. Vor allem wenn Moritz Bleibtreu auf der Leinwand erschien. Bleibtreu spielt Goebbels. Schön einstudiert mit rheinischem Tonfall, der Gestik des Reichsministers für "Volksaufklärung" - so die zynische NS-Bezeichnung - und dem bekannten Hinkefuß. Ein Kabinettstück. Aber auch Boulevardtheater. Das sorgte für Lacher. Und es waren keine zustimmend gemeinte Reaktionen. Aber auch anderes stieß dem Publikum übel auf - die Kulissen, das schablonenhafte Drehbuch, die historischen Verfälschungen - mit anderen Worten: die platte Umsetzung des schwierigen Stoffes.

"Jud Süß - Film ohne Gewissen" heißt Roehlers Werk. Es ist nun selbst ein Film ohne Gewissen geworden. Bei Roehler wird die Frau des österreichischen Jud-Süß-Hauptdarstellers Ferdinand Marian als "Vierteljüdin" bezeichnet. Das stimmt nicht mit dem historischen Vorbild überein. In Berlin sagte der Regisseur, er habe einen Spielfilm gedreht, keine Dokumentation. Da sei so etwas doch erlaubt, das sei dann dichter, emotionaler. Kann man das machen? Historische Tatsachen so verdrehen? Bei einem solch sensiblen Thema? Und vor allem: Warum? Birgt dieser Stoff nicht schon genügend Drama?

Seelenlose Ausstattungsoper

Doch das ist nicht einmal das Hauptproblem des Films. Bleibtreus Goebbels ist virtuos gespielt, aber völlig unglaubwürdig. Er drückt dem Film seinen Stempel auf. Kabinettstückchen zur "Belustigung" des Publikums sind das. Der ganze Film ist nur auf Höhepunkte inszeniert. Ein Kostümfilm. Eine seelenlose Ausstattungsoper. Man ahnt kaum etwas von den inneren Nöten der Schauspieler, die damals mitmachen mussten bei dem Schreckenswerk "Jud Süß". Obwohl Tobias Moretti überzeugt als Ferdinand Marian. Doch Roehler hat ihm nicht genügend Raum gegeben in Buch und Film.

Nach der Vorstellung treffe ich keinen Kollegen, der dem Film etwas abgewinnen kann. Die Reaktionen nach der festlichen Aufführung am Abend kenne ich nicht. Sie werden wohl nicht so drastisch ausgefallen sein. Doch das sollte kein Trost für Roehler sein. Bei den Gala-Vorführungen ist man stets gnädiger. Das Team ist dabei, der Festivaldirektor, die Ehrengäste. Da kann man seinem Unmut kaum freien Lauf lassen. Der richtige Testlauf wird noch kommen. Im Herbst startet der Film in den Kinos. Ich bin gespannt wie sich der Film behaupten wird, bei der Beurteilung in der Presse, beim Publikum.

Autor: Jochen Kürten

Redaktion: Marcus Bösch