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Immer noch eine Servicewüste?

Zhang Danhong10. September 2015

1995 hat der Unternehmensberater Hermann Simon den Begriff "Servicewüste" geprägt. Seitdem hat Deutschland mächtig aufgeholt. Doch von einer Serviceoase ist es noch weit entfernt, findet unsere Kolumnistin Zhang Danhong.

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Supermarkt Kasse Service Symbolbild Servicewüste Deutschland
Bild: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Woran erkennt man, dass ein Land Nachholbedarf in Sachen Dienstleistung hat? Sechs Indizien habe ich ausgemacht.

Erstens: Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie stören, sobald Sie einen Laden betreten. So entschuldige ich mich hin und wieder, weil ich die Verkäufer beim Warensortieren oder beim Plaudern unterbrechen muss. Wenn die Verkäuferin gerade das eingenommene Geld zählt, dann warte ich mit der Entschuldigung, denn sonst müsste sie ja von neuem beginnen.

Zweitens: Wenn Sie eine konkrete Frage stellen und eine allgemeine Antwort bekommen. Nehmen Sie in einem weniger edlen Schuhgeschäft einen Schuh in die Hand und fragen eine Verkäuferin, ob dieses Modell auch in einer bestimmten Größe zu haben sei, dann bekommen Sie höchstwahrscheinlich als Antwort: "Alles, was wir haben, liegt da."

Keine Lust auf Kunden

Drittens: Wenn Ihnen in einem Geschäft zu verstehen gegeben wird, dass Sie sich hier nicht mehr blicken lassen sollten. Neulich entdeckte ich in unserem Viertel eine neue Reinigung. Ich wollte sie mal ausprobieren. Die Mitarbeiterin erledigte alles, ohne eine Miene zu verziehen. Am nächsten Tag sollte ich die Sachen schon abholen. "Bis wann haben Sie auf?", wollte ich noch wissen. Einen kleinen Zettel bekam ich in die Hand gedrückt: "Sie können selber lesen. Steht alles drauf."

Symbolbild Schuhladen
Übersichtliches Warenangebot? Der Kunde muss Zeit zum Suchen mitbringen!Bild: picture alliance/ZB/J. Kalaene

Viertens: Wenn das Personal seiner Unlust freien Lauf lässt und hörbar stöhnt. Das passiert vor allem dann, wenn Sie es wagen, Sonderwünsche zu äußern. Das ist mir vor Kurzem widerfahren, als ich bei einer Apothekerin ein Medikament von einer bestimmten Firma bestellen wollte. Das war zu viel auf einmal. Nach der Demonstration ihrer Überforderung wusste ich nicht, wie ich aus der Nummer rauskommen sollte.

Selbstverständliches kommt selten vor

Fünftens: Wenn das Personal keine Lösung hat, Sie aber in ein philosophisches Gespräch verwickelt. Beispiel: Gerade habe ich keine Verbindung nach China. Wenn ich die Nummer meiner Eltern anwähle, höre ich mein eigenes Echo. An der Hotline der Telefongesellschaft wird mir versprochen, dass alles getan wird, um der Ursache auf den Grund zu gehen. Dann wird mir von einer technischen Revolution berichtet, in deren Verlauf man sich von der Vorstellung verabschieden müsse, immer und von überall nach China telefonieren zu können.

Sechstens: Wenn Sie fast zu Tränen gerührt sind, weil Sie einmal anständig bedient werden. Vergangene Woche war ich mit meiner Familie in einem Restaurant. Die Kellnerin empfanden wir alle als so liebenswürdig, dass ich sie zum Schluss mit einem fürstlichen Trinkgeld belohnte. Hinterher fragte ich mich, was sie eigentlich getan hatte und stellte fest: Nicht mehr, als es sich für einen guten Service gehört. Aber in einem Land, in dem Dienstleistung keinen hohen Stellenwert hat, ist das Selbstverständliche immer noch etwas Außergewöhnliches.

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DW-Redakteurin Zhang Danhong

Was Deutsche mit Chinesen verbindet

Im Begriff "Dienstleistung" steht das Wort "dienen". Das ist nicht so die Sache der Deutschen, auch nicht die der Chinesen. An Servicestellen hört die berühmte asiatische Höflichkeit oft auf. Bei Banken und Versicherungen werden Sie manchmal von Angestellten bedient, die Sie nicht eines Blickes würdigen. Wörter wie "Danke" und "Bitte" werden für überflüssiges Geplänkel gehalten.

Warum ist das so? Meine These ist, dass sich Deutsche wie Chinesen als ganz besondere Völker sehen, die für die Menschheit Großes geleistet haben. Man ist geboren, um eine bahnbrechende Technik zu erfinden oder um im Schöngeistigen aufzugehen. Einen Beruf auszuüben, in dem man anderen dient, ist kein Zeichen des persönlichen Erfolges. Also sagt man hier wie drüben lieber, man arbeite in der Gastronomie - klingt besser als "Ich bin Kellner".

Es ist höchste Zeit, solche Gedanken über Bord zu werfen. Denn die Dienstleistungsbranche ist in beiden Ländern zur tragenden Säule der Wirtschaft geworden. Während die deutschen Dienstleister knapp 70 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt beitragen, hat die dienende Branche in China 2013 mit einem BIP-Anteil von 46 Prozent zum ersten Mal die Industrie überholt.

Zhang Danhong ist in Peking geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.