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Gesellschaft

Virus, Natur, Geschichte... und wir

Georgi Gospodinov
27. Juni 2020

Corona birgt die Chance, unsere Ego-Zentrik aufzugeben und Empathie für Pflanzen und Tiere zu entwickeln, meint der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov. Das würde uns unserer eigenen Geschichte näher bringen.

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Spanien | Barcelona | Coronavirus | Gran Teatre del Liceu | Konzert vor Pflanzen
Konzert vor Pflanzen in BarcelonaBild: picture-alliance/AP Photo/E. Morenatti

Der Saal ist voll an diesem Abend. Wo in den vergangenen Monaten Leere herrschte, sind alle Sitze besetzt, auch die Balkone. Im wieder geöffneten Opernhaus von Barcelona nehmen knapp 3.000... Topfpflanzen dort Platz, wo sonst die Zuschauer sitzen. Ihr Grün steht in zartem Kontrast zum roten Plüsch der Stühle und den vergoldeten Kronleuchtern.

Endlich! Der Anblick wirkt zwar surreal - aber normal war jener der vergangenen Monate auch nicht. Wen soll man zu einem Konzert einladen, wenn noch immer Angst in der Luft liegt, das Virus noch hier ist und die Menschen nicht ausgehen können? Pflanzen. Sie können zuhören. Sie zappeln und husten nicht, haben keine Angst, strahlen still guten Willen aus.

Ein Quartett spielt Crisantemi von Puccini. Ein Werk, das von der Natur, von den Pflanzen inspiriert wurde - und nun zu ihnen zurückgebracht wird. Könnte es etwas Natürlicheres geben? Am Ende stehen die vier Musiker auf und verbeugen sich vor dem grünen Publikum. Diese Verbeugung ist wichtig. Die Verbeugung vor einer Pflanze, einem Kaktus, einer Aloe, einem Philodendron, vor dem, was um uns herum wächst und uns Sauerstoff bringt, ist stille Dankbarkeit.

Georgi Gospodinov
Der bulgarische Autor Georgi GospodinovBild: Petya Vassileva

Man kann dieses Konzert für eine exzentrische Geste halten. Aber genau auf diese Exzentrik kommt es an - sie reißt uns aus unserer Ego-Zentrik, entfernt uns aus dem Mittelpunkt der Welt, den wir seit Ewigkeiten besetzen. Es ist kein Zufall, dass der Titel der Aktion "Konzert für das Biozän" lautet.

Corona zwingt zum Schweigen

Vor einiger Zeit schrieb ich in einem meiner Romane, dass der Mensch für einen Moment schweigen sollte, um die Stimmen anderer Erzähler hören zu können - die der Tiere, der Pflanzen, einer Großlibelle, einer Venusmuschel... Sie alle haben viel Schweigen angesammelt - aber sie erzählen auch Geschichten, ihre gedämpfte, unterdrückte Erzählung verwandelt sich in schimmernde Mineralien und Moos, Algen, Flechten, Honig...

Nun zwingt uns der Ausnahmezustand zum Schweigen. Ein Freund erzählte mir, so habe er den Wechsel der Jahreszeiten noch nie erlebt. Auch ich habe zum ersten Mal langsam und konzentriert beobachtet, wie Blätter die Äste des Baumes vor meinem Fenster überziehen, wie viele Nuancen die Farbe Grün hat, und dass es ein wenig unhöflich und ungenau war, sie mit ein und demselben Begriff zu belegen.

Seit meiner Kindheit habe ich das Singen der Vögel nicht mehr so deutlich gehört. Ich begann sogar zu erkennen, was für ein Vogel gerade singt und fing an, über verschiedene Vogelarten zu lesen. Eine Nachbarin sagte, sie habe von ihrem Balkon aus 19 verschiedene Arten beobachtet. Nie zuvor haben wir mit unseren Nachbarn über Vögel und den Baum draußen gesprochen.

Ich frage mich, wie unsere Geschichten klingen würden, wenn sie von anderen Kreaturen erzählt würden. Diesen anderen Blick auf die Dinge zu haben, wäre eine gute Übung in Empathie. Stellen wir uns literarische Klassiker vor, die von Tieren für Tiere erzählt werden. Erzählen wir zum Beispiel "Der alte Mann und das Meer" aus der Perspektive des Fischs, genauer des Speerfischs. Sein Kampf mit dem zähen alten Mann und dem Meer ist nicht weniger dramatisch als der des Mannes und des Meeres mit ihm.

Die Perspektive des Fischs

In der Geschichte des Fischs ist er der Held des Kampfes auf Leben und Tod, blutend, angenagt - aber auch widerständig. Seiner Version zuzuhören würde ich als neue Empathie bezeichnen, als Umwelt-Empathie. Aber Musik in einem Konzertsaal voller Pflanzen zu spielen, ist auch ein guter Anfang, ein besonderes Geschenk. Und (wie immer bei Geschenken) ist es in beide Richtungen wichtig, für die Pflanzen und für uns - aber vor allem für uns.

Wir erleben die Rückkehr der Natur in vielerlei Hinsicht. Wir hören die Vögel deutlicher. Aber durch unseren Körper spüren wir auch die gerechte Rache der Tiere, die in unseren Schlachthöfen industriell getötet werden. Gelingt es uns nicht, diese metaphysische Botschaft zu verstehen, wird eine wortwörtliche, physische Botschaft folgen. Das Virus ist wortwörtlich und physisch. So läuft das, wenn man metaphysische Botschaften nicht bei Zeiten begreift.

Wenn wir unser Leben weiter leben wollen, brauchen wir eine radikale Änderung unserer Perspektive. Das sollten wir aus dem Virus lernen. Wir sollten unsere Empathie nicht nur auf die Menschen ausdehnen, die uns am nächsten sind; und auch nicht nur auf diejenigen, die weiter von uns entfernt sind, auf Menschen mit anderer Hautfarbe (so merkwürdig es ist, das im Jahr 2020 überhaupt zu erwähnen); sondern auch auf die Natur, aus der wir kommen. Das wäre ökologische Empathie.

Die Natur ist zurück. Und aus dem, was wir in den letzten Wochen gesehen haben, sollten wir lernen, dass auch die Geschichte zurückkommt. Das Verdrängte, Unausgesprochene kommt meist nach der großen Flut. Wir sollten einen Weg finden, mit beiden zu sprechen - mit der Natur und mit der Geschichte. Alle aufgeschobenen Gespräche kommen eines Tages zurück. Dieser Tag ist heute.

Georgi Gospodinov (geb. 1968) ist der meistübersetzte zeitgenössische bulgarische Schriftsteller. Seine Romane "Natürlicher Roman" und "Physik der Schwermut", sowie seine Gedichtbände und Theaterstücke sind in 25 Sprachen übersetzt worden. Gospodinov erhielt unter anderem den Mitteleuropäischen Literaturpreis Angelus (2019) und den Jan Michalski Literaturpreis (2016). Zurzeit ist er Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.