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Mein Europa: Die 306 Neuen

Beqe Cufaj
15. Oktober 2016

Sie sind so gut wie unsichtbar - die 306 Flüchtlinge im idyllischen Degerloch. Für sie und andere Hilfesuchende müssen Grenzen eingerissen werden. Das wünscht sich Gastkolumnist Beqë Cufaj.

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Deutschland Kosovo Beqë Cufaj DW Gastkolumnist
Bild: Jürgen Sieckmeyer

Sich selbst zu suchen bedeutet vor allen Dingen, sich mit Erinnerungen auseinanderzusetzen. Mit den Gedächtniskarten, auf denen die Grenzen Europas verzeichnet sind, beginnend mit der Geburtsstadt im Südwesten des Kosovo, den politischen Unruhen, mit denen ich eine ganze Jugend verbracht habe, dem zerstörerischen Krieg, der im gesamten Gebiet des ehemaligen Jugoslawien herrschte, aus dem sieben neue Staaten hervorgingen.

Und danach öffnet sich das Kapitel der Erinnerungen und Reisen auf dem Kontinent: mit dem chaotisch-bürokratischen Brüssel oder mit Den Haag, das am kalten Meer liegt, Paris und den wahnsinnigen Terroristen, Spanien, das auf Mallorca so deutsch wie anderenorts katalanisch ist, dem elektrisierten Wien oder Kafkas Prag, der Slowakei ohne Roma, dem katholischen Warschau oder dem melancholischen Portugal. Landkarten und Grenzen, die man irgendwie nicht mehr sehen, sondern nur erinnern will. In Bildern oder in Form von Buchstaben, Buchstaben, Buchstaben. 

Grüne Landeshauptstadt

Sich selbst zu suchen bedeutet, den Menschen zu entfliehen und die Weite der Berge in der Gegend, wo ich lebe, aufzusuchen: sich in Degerloch am Stuttgarter Fernsehturm vorbei dicht durch die Felder in Richtung Daimler-Zentrum treiben zu lassen; oder den Weg nach Waldau hinunter zu laufen zur einzigen Landeshauptstadt Europas, in der die Grünen in Land und Kommune regieren. Um die Idylle noch perfekter zu gestalten, ist es auch die Landeshauptstadt, die die meisten Maschinen weltweit produziert, jene, in der man gerade dabei ist, einen der modernsten Bahnhöfe Europas zu errichten, eine Hauptstadt, die mit nur 600.000 Einwohnern nicht anders bezeichnet werden kann als eine unendlich heile Welt! 

Die Hauptstraße der Gegend in Degerloch heißt Epplestraße. Auf 400 Metern dieser Straße, welche sich über zwei Kilometer erstreckt, gibt es vier Apotheken, acht Bäcker, neun Einkaufsläden (mehrheitlich Bioläden), drei Kiosks, vier günstige Imbissbuden und vier sehr teure Restaurants, zwei orthopädische Schuhläden, zwei Läden für Hörgeräte, zehn Arztpraxen, vier Zahnärzte, eine Buchhandlung und eine Stadtbücherei, ein sehr schönes weißes Bürgerhaus, eine evangelische Kirche, eine christlich-orthodoxe Kirche, eine apostolische Kirche, eine Realschule, ein Gymnasium, zwei Wochenmärkte mit frischen Produkten, zwei Tankstellen, und, und, und… Menschen aus dem ganzen Kontinent! Auf der oberen Seite von Degerloch, am Waldrand entlang, sind Sportanlagen mit Dutzenden Feldern für Fußball, Tennis, Leichtathletik, Fitness oder Gymnastik. Daran grenzen Altersheime, deren Zahl in den vergangenen zehn Jahren immer weiter und weiter steigt. So sehr, dass es einem schwer fällt, sie zusammenzuzählen.

Symbolbild Serbien Flüchtlinge Grenze
Flüchtlinge auf dem Weg nach Deutschland: "Es ist allemal einfacher, mit der Arbeit anzufangen" Bild: Getty Images/AFP/Stringer

Die heile Welt in Degerloch

Dies ist die heile Welt von Degerloch, in der ich nun seit mehr als zehn Jahren lebe und in der ich mich täglich bewege, besonders in den letzten drei Jahren, ohne mich im Geringsten von ihr zu entfernen, mit Ausnahme von dem gelegentlichen Urlaub in Italien, oder der einen oder anderen Reise innerhalb Deutschlands. Dies ist gleichermaßen die heile Welt nahezu jeder Gegend im Süden Deutschlands, aber auch im Norden, Westen oder Osten. Dieses Land ist schließlich weltweit bekannt für seine gleichwertigen Lebensstandards in verschiedenen Regionen.

Der heilen Welt in Degerloch mit 16.351 Einwohnern haben sich seit einigen Monaten 306 weitere hinzugesellt. Diese neuen Einwohner sind aber so gut wie unsichtbar, weil sie in den umgebenden Wäldern untergebracht worden sind: Die Flüchtlinge. Einigen sind sie willkommen - und anderen nicht so sehr. 

Oder sollte vielleicht die genaue Verteilung der Stimmen der Degerlocher bei den letzten Landtagswahlen erwähnt werden?

Ein großes Wunder wird geschehen

Oder muss es etwa so sein, dass sich die Gnade oder Gnadenlosigkeit gegenüber jenen Menschen, die Hilfe brauchen, in den Bäckereien, Apotheken, Supermärkten, Straßen, und Wahlurnen in Angst überträgt? Oder ist es eher die Politik, ihre Manipulation, der Krieg gegen den Terror und die verrückten Islamisten, die ein Volk und eine Gesellschaft in das Lager der Populisten zurückwerfen, die nur eine "reine" Rasse wollen? Grauenerregend, die Landkartenteilung von Vierteln in Städten und Dörfern, von Staaten und Kontinenten, in Rassen. Unerträglich die Angst. Und unverzeihlich die Verwirrung. 

Die Grenzen der Ortschaften müssen eingerissen werden für die Menschen, die sich nun hier niedergelassen haben. In den Randbezirken unserer Quartiere, in Containern, Altbauten, verlassenen Gegenden.

Das wird nicht einfach sein. Aber es ist allemal einfacher, mit der Arbeit anzufangen. Es wird ein großes Wunder geschehen: Sie werden sich wie ein Teil dieser Gesellschaft fühlen, wie jeder von uns, der nach dem Zweiten Weltkrieg hierher gekommen ist, zum Wiederaufbau Deutschlands, zum Wunder von "Made in Germany", beim Fall des Eisernen Vorhangs und der Arbeit an der Wiedervereinigung, zur Zeit der grauenhaften Kriege Ex-Jugoslawiens. Und nun während des entsetzlichen Syrien-Krieges. Dessen Folgen auch Degerloch mit seinen 306 neuen Einwohnern spürt.

Der Schriftsteller und Journalist Beqë Cufaj wurde 1970 in Decan im Südwesten des Kosovo geboren und studierte Literatur in Pristina. Er lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Degerloch, Stuttgart. Unter anderem veröffentlicht er Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und der "Neuen Zürcher Zeitung".  2012 veröffentlichte er seinen Roman "projekt@party" im Secession Verlag.