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Politik

Mein Europa: Meine Geschwindigkeit

Amir Kamber
25. März 2017

Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten: Wie soll das funktionieren? Die Fürsprecher geben sich demokratisch, die Verlierer werden die nationalistische Karte spielen, warnt der Schriftsteller Amir Kamber.

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Schriftsteller und Journalist Amir Kamber
Bild: Amir Kamber

Deutschland und Frankreich setzen auf ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Das verkündeten Angela Merkel und François Hollande bei ihrem jüngsten Treffen in Versailles. Jetzt, drei Wochen später in Rom, zum 60. Geburtstag der Europäischen Union, ist das Mantra in aller Munde. Was ist eigentlich gemeint? Für mich ein Rätsel.  

Selbstverständlich leuchtet eine erste Bedeutung unmittelbar ein: Das Sprachbild von unterschiedlichen Geschwindigkeiten beschwört voneinander abweichende Integrationsprozesse in der Europäischen Union. Es geht schlicht und einfach um das vorhandene demokratische und wirtschaftliche Entwicklungsgefälle zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten. So weit, so gut.

Trotzdem. Je mehr man über die politische Metapher der Geschwindigkeit nachdenkt, desto ratloser kann man werden. Oder vielleicht noch schlimmer - desto mehr fällt einem dazu ein.

Ich könnte zum Beispiel ähnlich metaphorisch behaupten, mein Europa erreicht gerade eine, wie ich finde, ziemlich respektable Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometern. Aus ganz persönlicher Sicht. Ich sitze momentan in einem rasenden ICE, bin unterwegs zur Buchmesse nach Leipzig und frage mich außerdem, mit Verlaub, wie schnell sich mein Europa aus der tagesaktuellen Perspektive von Frau Merkel und Monsieur Hollande bewegt? Und vor allem: wohin?    

Geschwindigkeitsmodell als unsolidarische Zukunftserzählung

Man weiß es nicht genau. Aber ihr Ziel hat auch etwas mit Belletristik zu tun. Das vermute ich. Politik und Literatur haben mehr gemeinsam, als wir auf Anhieb annehmen möchten. Die politische Sprache kommt ohne literarische Verfahren nicht aus. Die deutsch-französische Geschwindigkeitsmetapher, die wir hier zerlegen wollen, liefert den entsprechenden Beleg. In Wahrheit ist das Sprachbild nicht neu, es ist bereits einige Jahrzehnte alt. Aber was soll‘s, die Vinyl-Schallplatten von damals sind ja auch schon wieder "in".

Nochmal: Das Mantra von einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten wirkt als Zustandsbeschreibung zunächst plausibel. Die Erfahrung zeigt, dass die Interessen und die Integrationsfähigkeiten innerhalb der EU unterschiedlicher Natur sind. Das dürfen wir durchaus mit Bedauern akzeptieren. Gleichwohl bleibt die Frage, weshalb die Schieflage der Europäischen Union in eine Geschwindigkeitsmetaphorik übersetzt wird -  die selbst schief ist?   

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Kann eine Gemeinschaft unterschiedlich schnell voranschreiten, ohne ins Schleudern zu geraten? Bild: Getty Images/AFP/B. Katsarova

Wie soll das in der sogenannten Realität funktionieren? Kann eine Gemeinschaft tatsächlich unterschiedlich schnell voranschreiten, ohne ins Schleudern zu geraten? Praktisch kaum vorstellbar. So gesehen entpuppt sich das eigentümliche Geschwindigkeitsmodell als eine hochgradig unsolidarische Zukunftserzählung. In ihr werden innereuropäische Machtverhältnisse und damit einhergehende Hierarchien unglaubwürdig optimistisch dargestellt. Denn die Story wird von den Akteuren propagiert, die in ihrer unbeholfenen Selbstwahrnehmung stets fortschrittlicher als andere sind. 

Autoritäre Revolte 

Eine Gegen- beziehungsweise Parallelerzählung lässt nicht lange auf sich warten. Die radikale Bremse im europäischen Integrationsprozess kommt erwartungsgemäß von den Kräften, die im Geschwindigkeitsnarrativ hinterher sind. Sie kehren den Status des Abgehängten rhetorisch um und schmieden daraus ihre populistische Allzweckwaffe. Wir sind derzeit leider Zeugen, wohin der identitätspolitische Wahn führt. Das Resultat ist eine breite autoritäre Revolte seitens nationalistischer Bewegungen in ganz Europa. 

Zu guter Letzt darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die politische Geschwindigkeitserzählung nur in einem übergeordneten Kontext von Kapitalismus und Globalisierung zu begreifen ist. Nur so rühren wir am Kerndefekt der Konstruktion. Beim Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ist eine kapitalistische Wettbewerbskonstellation vorgezeichnet. Die Vorreiter geben sich demokratisch. Die Verlierer werden irgendwann die nationalistische Karte spielen.  

Bücher halten unendlich viele Geschwindigkeiten aus. Überhaupt kein Problem. Das zerreißt sie nicht. Das macht den Zauber des Lesens aus. Mein Europa ist derzeit weitaus besser in der Literatur aufgehoben als in den gegeneinander anrennenden europäischen Realitäten.   

Der Schriftsteller und Journalist Amir Kamber ist 1977 im ehemaligen Jugoslawien geboren. Der Bosnien-Krieg brachte ihn Anfang der 1990er-Jahre nach Deutschland. Hier stieg er schon als Student ins Radio-Geschäft ein. Heute arbeitet er unter anderem für den Westdeutschen Rundfunk als Radio-Moderator und Autor. Er publiziert in deutscher und bosnischer Sprache.