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Politik

Mein Europa: Auch wir sind das Volk

Jagoda Marinic
10. November 2017

Flüchtlingskrise und Aufstieg der AfD haben das gesellschaftliche Klima in Deutschland verändert. Menschen mit Migrationshintergrund fühlen sich wieder vermehrt nur als Bürger zweiter Klasse, meint Jagoda Marinic.

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Jagoda Marinic Autorin
Bild: D. Piroelle

Am Tag der Bundestagswahl nutzte Alexander Gauland, ein neugewähltes Parlamentsmitglied und führender Politiker der rechtsextremen AfD, seinen 30-Sekunden-Auftritt im Fernsehen, um ins Mikrofon zu rufen: "Wir werden uns unser Land zurückholen."

Über die sogenannten "Wutbürger", die wütenden Deutschen, ist in den vergangenen zwei Jahren viel geredet worden. Das, was man auch in Ausland als "German Angst" kennt, hat inzwischen eine "German Wut" erzeugt. Angst scheint eine Emotion zu sein, die für die Deutschen allerlei Fehlverhalten rechtfertigt.

Über die, von denen die AfD-Führer dieses Land zurückholen wollen, ist sehr wenig gesagt worden. In Deutschland ist der öffentliche Diskurs über Einwanderung stets hinter der deutschen Realität zurückgeblieben. Doch das Land ist wesentlich vielfältiger, als seine politischen Vertreter vermuten lassen.

In der neuen Fraktion der CDU/CSU, der traditionell konservativen Partei, haben diesmal nur 2,6 Prozent der Abgeordneten einen nichtdeutschem Hintergrund. Selbst bei der AfD ist dieser Anteil dreimal so groß. Beide Zahlen zeigen jedoch, dass die Zuwanderer als Gruppe - um es milde auszudrücken - politisch weitgehend marginalisiert bleiben. Die deutschen Städte sind dagegen sichtlich vielfältiger geworden - jeder vierte Stadtbewohner hat inzwischen einen Migrationshintergrund.

Begrenzte politische Schlagkraft

Vor sechs Jahrzehnten, als die ersten Gastarbeiter kamen, wurden Regelungen getroffen, um sicherzustellen, dass diese Menschen keinen Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft erhielten. Im Gegensatz dazu hat heute fast die Hälfte der 20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland einen deutschen Pass.

Deutschland türkische Gastarbeiter 1960/70
Gastarbeiter 1964 in Deutschland - Der Schriftsteller Max Frisch schrieb schon damals: "Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen"Bild: picture-alliance/CPA Media Co. Ltd

Dennoch bleibt deren politische Schlagkraft jedoch begrenzt. Sowohl die Politik als auch die breite Öffentlichkeit stecken in einer Sackgasse und ziehen es vor, über Einwanderer zu sprechen und darüber, was sie ihnen anbieten wollen, anstatt sich direkt mit Vertretern der Minderheiten und ihren Forderungen zu befassen. Letztere bleiben ihrerseits als Gruppe relativ ungeordnet, so dass sie die demokratischen Strukturen, die zur Förderung ihrer Interessen zur Verfügung stehen, nicht effizient nutzen können.

Inzwischen ist in den deutschen Medien üblich geworden, dass alte einheimische Männer über Immigranten in den Talkshows diskutieren. Alexander Gauland ist einer von ihnen. Anstatt ihm zu verdeutlichen, dass er in der Wahlnacht eine rote Linie überschritten hat, wurde er zum 27. Jahrestag der deutschen Einheit in die beliebteste deutsche Talkshow eingeladen - um über nationale Identität zu sprechen. Und wieder einmal wurde keine Stimme der Vertreter der Minderheiten eingeladen, um in der Gauland-Show eine eigene und authentische Perspektive zu repräsentieren.

Auch haben die deutschen Medien keinen konzertierten Versuch unternommen, die neuen Extremisten zu entlarven. Im Gegenteil: Es gelang der rechten Partei, in großen Teilen der deutschen Medienlandschaft unverhältnismäßig viel Platz einzunehmen. Damit trugen sie wesentlich zur Normalisierung extremistischer Positionen bei, die noch vor zwei Jahren nicht akzeptabel gewesen wären. Und die Stimmen der Einwanderer und ihren Nachkommen wurden gleichzeitig völlig überhört.

Viele deutsche Kinder haben einen Migrationshintergrund

Doch die deutsche Realität ist längst eine andere: Bei den Erstklässlern in Hamburg etwa hat jedes zweite Kind einen Migrationshintergrund. Anstatt aber den Weg für mehr Kohärenz zu ebnen, konzentriert sich Deutschland auf Fragen der nationalen Identität und wie man die wütenden 13 Prozent AfD-Wähler beruhigt. Damit schenkt man der Partei die Aufmerksamkeit, die ihr überhaupt erst geholfen hat, diesen Erfolg zu erzielen.

Kanzleramt Festakt 60 Jahre Gastarbeiter
Angela Merkel 2015: "Ohne seine Einwanderer wäre Deutschland nicht so wohlhabend, wie es ist"Bild: picture-alliance/dpa/M. Kaman

Vor nicht sehr langer Zeit - und vor dem Aufstieg der AfD - versuchte die Bundeskanzlerin die Einwanderer und ihren Beitrag zum Reichtum und zum Erfolg Deutschlands zu würdigen. Sie weiß, dass ihre viel kritisierte Flüchtlingspolitik nur dann erfolgreich sein kann, wenn die Erzählung von Deutschland als einem erfolgreichen Einwanderungsland zum Bestandteil des nationalen Bewusstseins wird.

So lud sie 2015 hunderte Aktivisten, ehemalige Gastarbeiter und deren Kinder ins Kanzleramt ein, um 60 Jahre des ersten Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und Italien, der Türkei, Griechenland, dem ehemaligen Jugoslawien und anderen zu feiern. Merkel weckte Hoffnung und Vertrauen bei vielen, die damals im Publikum saßen, als sie eindringlich feststellte: "Sie gehören genauso zu Deutschland wie alle anderen, die hier leben." Ohne seine Einwanderer wäre Deutschland nicht so wohlhabend wie es heute ist.

Bürger zweiter Klasse

Und doch hat der Aufstieg der AfD innerhalb von nur zwei Jahren zu einer Gegenreaktion im deutschen Diskurs geführt. Merkel, die den Verlust konservativer Wähler fürchtet, war nicht in der Lage das zu verhindern. Und so mussten wir etwas lernen: unsere Stimmen sind anscheinend weniger wert. Meine Generation, so scheint es, muss akzeptieren, dass Demokratie nicht etwas ist, was für uns zählt.

Es hat lange gedauert, bis Deutschland sich von ius sanguis, dem Abstammungsprinzip, verabschiedet hat und uns trotz unseres ausländischen Blutes das Recht gewährt hat, Deutsche zu sein. Heutzutage werden Bindestrich-Deutsche oft als Neudeutsche bezeichnet. Die AfD hat aber auch einen Weg gefunden, selbst das anzugreifen. Während ihres Wahlkampfes hängte sie Plakate auf: "Neue Deutsche? Machen wir selber." und bildete darauf eine schwangere Frau ab.

Zunächst behauptete die rechtsextreme Bewegung, die deutsche Politik konzentriere sich nicht mehr auf das deutsche Volk. Es ist nun an der Zeit, dass die "Neuen Deutschen" ihnen sagen: Unsere Eltern waren nur Gastarbeiter, keine Gastbürger. Ihnen wurde das Wahlrecht auf jeder Ebene verweigert. Aber ihre Kinder sind keine "Ausländer mit deutschen Pässen", wie uns die Rechtsextremen gerne nennen. Wir sind auch das Volk.

Jagoda Marinic ist eine deutsch-kroatische Schriftstellerin, Theaterautorin und Journalistin. Sie wurde als Tochter kroatischer Einwanderer in Waiblingen geboren. Zurzeit lebt sie in Heidelberg. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Made in Germany - Was ist deutsch in Deutschland?". Darin setzt sie sich mit der Identität Deutschlands als Einwanderungsland auseinander.