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Politik

Mein Europa: Nationale Wahlkämpfe trotz globaler Probleme

Stanislaw Strasburger
22. September 2017

Der Bundestagswahlkampf gilt als wenig aufregend, weil der Sieger feststehe. Dennoch wird diese Wahl weitreichende Konsequenzen haben, für Deutschland und auch international, glaubt Stanisław Strasburger.

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Stanislaw Strasburger
Bild: Mathias Bothor

Das Ausland und die EU standen im Bundestagswahlkampf nur selten im Fokus, gerade bei Angela Merkel. Der Vergleich mit den jüngsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich und den Themen von Emmanuel Macron fällt enttäuschend aus. Als wollten die hiesigen Parteien ihre Wähler glauben lassen, Deutschland bleibe provinziell. Und das, obwohl doch die "Nation", welche die Politiker offenbar vor allem anzusprechen versuchen, im Zuge der globalen Prozesse keinen wesentlichen Lebensbereich mehr "für sich allein" regeln kann.

Anders war das in meinem Geburtsland Polen. Hier konzentrierten sich die Medien bei der Berichterstattung über den deutschen Wahlkampf auf die außenpolitischen Themen. Das Interesse an den Bundestagswahlen ist dort ohnehin groß. So möchte zum Beispiel das öffentliche polnische Radio zum ersten Mal am Sonntag einen Wahlabend live übertragen. Doch wofür interessieren sich die Polen an den deutschen Wahlen?

Viele offene Fragen

Die PiS-Regierung in Warschau hat seit Herbst 2015 den Kurs gegenüber Berlin verschärft. Viele Beobachter sehen darin eher konjunkturelle, innenpolitische Züge als eine kluge, auf internationalen Erfolg abzielende Strategie. Doch nicht zuletzt zeigt der beachtliche Zuspruch für diesen Kurs in der polnischen Öffentlichkeit (und die entsprechende Rhetorik!), dass viele Menschen gute Gründe für eben diesen Kurs sehen.

Polen Warschau unter dt.Besatzung/Strassenszene 1939
Vergangenheit wird manipulativ in der Tagespolitik eingesetzt: Warschau unter deutscher Besatzung 1939Bild: picture-alliance/akg-images

Es gibt eine Reihe von konkreten Fragen zu deutsch-polnischen, europäischen und internationalen Themen, die als klärungsbedürftig erscheinen. Auf polnischer Seite fühlt man sich dabei oft unverstanden. Dazu gehört zum Beispiel die Frage nach dem Verhältnis zu Russland. Viele Menschen in Polen haben nicht zuletzt angesichts des andauernden Ukraine-Konflikts Angst. Im Zweifelsfall vertrauen sie schlicht auf militärische Stärke. So stieß sogar in sogenannten links-liberalen Kreisen in Polen der Vorstoß von Martin Schulz, dem Kanzlerkandidaten der SPD, für den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland auf weitgehendes Unverständnis. Ähnlich begegnet man der Absage der SPD (und natürlich auch der Grünen) zur Aufstockung des Rüstungsetats. 

Weitere Beispiele sind: Klimawandel, Verkehrswende, NordStream 2, das gesamte Verhältnis zwischen der EU und den USA, und natürlich auch die Flüchtlingsfrage inklusive der Bekämpfung der Fluchtursachen. Hinter diesen pragmatischen Aspekten versteckt sich jedoch eine Ebene, die ich im Bereich der Gesellschaftspsychologie ansiedeln würde.

Die Last der Vergangenheit

Im Spätsommer dieses Jahres waren die Plakatwände in Warschau mit reißerischen Postern übersät. Der folgende Inhalt wurde in Begleitung von drastischen Fotos transportiert: "Die Deutschen haben Millionen von Polen ermordet und unser Land zerstört. Deutsche, ihr müsst dafür bezahlen!". Die in englischer Sprache formulierten Poster ließen die Absicht erkennen, dass die ganze Welt von dem erlittenen Leid und den klar zu benennenden Schuldigen erfahren soll. Es gab auch entsprechende zweisprachige TV-Spots und Kampagnen in den Sozialen Medien.

Trotz beachtlicher Anstrengungen scheint die polnisch-deutsche Aufarbeitung der Vergangenheit, vor allem des Grauens des Zweiten Weltkrieges und der damaligen Besatzung Polens durch Hitler-Deutschland, weitgehend gescheitert zu sein. Die Erinnerungen an die Konzentrations- und Vernichtungslager, den täglichen Terror und die Angst, die zahlreiche Bewohner Polens erleben mussten, belasten viele Menschen über Generationen hinweg bis heute. Bis heute wirken sich diese Erinnerungen zerstörerisch auf den Alltag aus. In jüngster Zeit macht sich auch ein Gefühl der mangelnden Wiedergutmachung lautstark bemerkbar - die erwähnten Poster beziehen sich auf die aktuellen polnischen Reparationsforderungen.

Deutschland AFD Wahlkampfveranstaltung in Magdeburg
Die meisten Probleme der Gegenwart kann man nicht nationalstaatlich lösenBild: DW/M. Sileshi Siyoum

Auch wenn die unverarbeitete Vergangenheit manipulativ für die aktuelle, durchaus fragliche Erinnerungspolitik der Regierung in Warschau missbraucht wird, heißt das nicht, dass man sich den bedrückenden Altlasten, wie sie mit ihrer ganzen Wucht heute immer noch aufkommen, nicht stellen sollte.

Der Nationalstaat ist keine Lösung

In dieser Stimmung blicken viele Menschen in Polen auf die Bundestagswahl in Deutschland. Angesichts der latenten Angst vor der AfD und den Protestbewegungen der "Wutbürger", wie auch des mangelnden Vertrauens in Martin Schulz und die gesamte SPD, wird Angela Merkel oft als die beste Wahl angesehen. In einem Interview sagte Außenminister Witold Waszczykowski, die EU sei eine Institution, die "ihren Mitgliedstaaten verschiedene Instrumente an die Hand gibt, ihre eigenen nationalen Programme und nationale Interessen durchzusetzen".

Und da wird das eigentliche Paradox sichtbar: Alle der genannten "polnischen" Interessen an den Bundestagswahlen in Deutschland sind internationaler, globaler Natur. Als solche können sie weder von Deutschland noch von Polen im Alleingang angegangen werden. Gleichzeitig setzt der Zuspruch für eine mögliche weitere Amtsperiode von Kanzlerin Merkel auf das weitere Verharren in provinziellen, sprich nationalen politischen Strukturen und Denkweisen.

Wie kann dieses Paradox gelöst werden? Als überzeugter Europäer glaube ich persönlich daran, dass es das nationale Erbe zu überwinden und es die Nationalstaaten als Hauptakteure der europäischen Politik durch supranationale Institutionen zu ersetzen gilt.

Solange es aber keine politischen Kräfte gibt, die sich für diesen alternativen Weg stark machen und die Wähler hiervon überzeugen können, drehen wir uns im Kreis. Es ist ein Teufelskreis, in dem sich die Spannungen zwischen den einzelnen Staaten in Europa nur noch weiter vertiefen. Mehr noch: Ich befürchte, die Spannungen werden nicht nur auf der politisch-diplomatischen Ebene bleiben, sondern absehbar sehr viele Menschen in ihren Bann ziehen.

Stanisław Strasburger wurde in Warschau geboren. Er ist Schriftsteller und Kulturmanager. In Buchform sind von ihm erschienen: "Besessenheit.Libanon" und "Der Geschichtenhändler". Er lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und diversen mediterranen Städten. Zudem ist er Ratsmitglied des Vereins "Humanismo Solidario".

Stanislaw Strasburger Kolumnist HA Programs for Europe, Autor "Mein Europa"