1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Mein Europa: Politiker kämpfen um die Vergangenheit

Ivaylo Ditchev
26. April 2019

Vor allem Populisten lieben es, uns in die Vergangenheit zurückzuversetzen. Alte Wunden lenken von den realen Problemen der Gegenwart ab - auf gefährliche Weise, warnt der bulgarische Kulturanthropologe Ivaylo Ditchev.

https://p.dw.com/p/3HTx0
Ivaylo Ditchev
Bild: BGNES

Die Politik beginnt, wie eine historische Nachstellung auszusehen. Ich spreche nicht nur von Gedenkveranstaltungen, Kranzniederlegungen und feierlichen Wiederbestattungen, die derzeit Hochkonjunktur haben. Die neuen Kulturkämpfer gehen noch weiter, sie stürzen sich in ernsthafte Kriege an den Frontlinien der Vergangenheit. Bei der Nachstellung einer Schlacht ziehen erwachsene Menschen Kostüme an und bekämpfen einander mit stumpfen Schwertern oder Plastikspeeren. Einige wollen historische Hypothesen überprüfen, für andere ist es ein Ritual zu Ehren ihrer gefallenen Vorfahren, während andere nur einen netten Zeitvertreib suchen. Während auf Gedenkfeiern frühere Ereignisse betrauert werden, die das kollektive Gedächtnis prägten, geht es bei historischen Nachstellungen um den Wunsch, die Geschichte zu verändern, indem man die Ungerechtigkeiten der Vergangenheit wieder gut zu machen versucht.              

Zum Beispiel pflegen die Bulgaren das Ritual, den April-Aufstand von 1876 gegen die osmanische Herrschaft nachzustellen. Dabei geht es darum, diesem Befreiungsversuch eine heroische Dimension und besondere historische Bedeutung zu verleihen, obwohl er blutig niedergeschlagen wurde. Im Freizeitpark "Stalin-Linie" in Weißrussland sollen Militärspiele ein sowjetisches Verteidigungsprojekt feiern, das in Wirklichkeit ein Fiasko war. 

Symbolische Kämpfe um historische Figuren

Vor allem Populisten lieben es, uns in die Vergangenheit zu versetzen. Nehmen wir zum Beispiel die griechischen Neonazis von der Goldenen Morgenröte: Jedes Jahr inszenieren sie eine nationalistische Kitsch-Show an dem Denkmal, das an die Schlacht bei den Termopylen zwischen Griechen und Persern erinnert. Ihre Botschaft ist klar: Sie versprechen, bis auf den Tod gegen die vermeintliche "Invasion" der Migranten zu kämpfen, aber auch gegen jede Einmischung des europäischen "Imperiums" in die Angelegenheiten des freiheitsliebenden Vaterlandes. 

Alte Wunden wieder zu öffnen, ist eine besonders beliebte Methode, um von den realen Problemen der Gegenwart abzulenken. Wie im Fall der echten Kriege stärken symbolische Konflikte die politische Legitimation der Gegner - deshalb sind sie nicht abgeneigt, auf dieser Ebene zu kooperieren. Die "Mazedonische Frage", die einst die tragischen Balkan-Kriege auslöste, wird in der Region wiederbelebt durch symbolische Kämpfe um historische Figuren wie Alexander der Große oder Samuil (einer der letzten Zaren des ersten bulgarischen Reiches) und um den Namen oder die Sprache des Landes. Seltsamerweise scheint auch der Kampf gegen die Herrschaft der Osmanen immer intensiver zu werden - obwohl diese bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts in der ganzen Balkan-Region zu Ende ging. Und auch der Kampf gegen die kommunistische Unterdrückung oder alles andere, was bereits in der Vergangenheit liegt, scheint im Nachhinein stärker zu werden.

Bildergalerie Skopje
Die Statue von Alexander dem Großen in Skopje, der Hauptstadt NordmazedoniensBild: DW/A. Feilcke

Das Spiel namens "Geschichte" soll wieder bei Null beginnen

All das gilt nicht nur für die südöstliche Peripherie Europas. Das britische Votum für den Brexit wurde in großem Maße auch von der Erinnerung an das "Empire", in dem die Sonne niemals untergeht, beeinflusst. Donald Trump hat versprochen, Amerika wieder "great" zu machen, was möglicherweise auch eine Vorherrschaft des weißen Mannes implizieren könnte. Auf der anderen Seite erleben viele Menschen aus ehemaligen Kolonien erneut die von ihren Vorfahren erlittenen Ungerechtigkeiten, verstärkt durch Filme und Erinnerungsrituale. Dieses emotionale "Rohmaterial" wurde von Al-Kaida und dem "Islamischen Staat" instrumentalisiert.

Nostalgie für die Vergangenheit ist ein melancholisches Gefühl. Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk verwendet das unübersetzbare Wort "Hüzün" (mit ähnlichen Konnotationen wie Traurigkeit, Kummer, aber auch Entfremdung von Gott), wenn er über den vergangenen Glanz des Osmanischen Reiches spricht, der für immer verloren ist. Doch Populisten haben eine ganz andere Art, die Vergangenheit heraufzubeschwören: Sie stellen sie energisch nach, so als könnte man alle späteren unglücklichen Entwicklungen auf magische Weise löschen und das Spiel namens "Geschichte" wieder bei Null beginnen. 

Die Idee der Zukunft ist zusammengebrochen

Glaubt jemand ernsthaft, dass Länder mittlerer Größe wie das Vereinigte Königreich oder die Türkei wieder Imperien werden könnten? Oder dass man in unserer globalisierten Welt noch stolze Nationalstaaten mit einer homogenen Bevölkerung haben kann? Eine Erklärung für die Politik der historischen Nachstellungen ist eine Explosion der Identitäten. Der Bürger und Konsument will ein Recht auf eine Identität jenseits von Job, Auto und Smartphone. Wieso sollte er oder sie mit dem Schmerz der verlorenen Schlacht aus der Vergangenheit leben, mit der Demütigung der Vorfahren und dem Verlust von Territorien? Historiker sagen, so sind die Dinge nun mal gelaufen, aber wieso sollte man auf diese "Bürokraten" hören? 

Im Grunde genommen ist die Idee der Zukunft zusammengebrochen. Wir leben mit immer mehr Bildern von Katastrophen, von einer Klima-Apokalypse und Terrorismus, von Asteroiden und Viren. Mittlerweile sind wir davon überzeugt, dass unsere Kinder es nicht besser haben werden als wir. Im besten Fall hoffen wir darauf, dass sie erhalten können, was wir haben. Ist es dann verwunderlich, dass Politiker der Zukunft den Rücken kehren und sich lieber in einer Schlacht um die Befreiung der unterdrückten Vergangenheit engagieren? 

Ivaylo Ditchev ist Professor für Kulturanthropologie an der Universität Sofia in Bulgarien. Er hat unter anderem in Deutschland, Frankreich und den USA gelehrt.