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Politik

Mein Europa: Sommer, Reisen, heiße Reden

Urszula Ptak
27. Juli 2019

Wer kann sagen, wohin die Reise in Europa geht? Warum passt alles nicht mehr zusammen? Die polnische Publizistin Urszula Ptak spricht im Regionalzug mit Fremden über Politik - mit überraschenden Ergebnissen.

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Urszula Ptak
Bild: Nikolai Sperling

Sind wir alle dümmer geworden oder brennt die Sonne wirklich so stark, dass ich nicht mehr klar denken kann, weswegen ich die Zukunft Europas schwarz sehe? Bekannte polnische Europagegner sitzen im EU-Parlament, die Hälfte Polens lacht darüber, die andere ärgert sich. Wohin sind wir 15 Jahre nach dem EU-Beitritt gekommen?  Diese Frage stellte ich mir eines Morgens auf meiner Terrasse irgendwo in Südpolen, während ich die Schlagzeilen las. Ein richtiges Karussell von narzisstischen Politikern, von Selbstdarstellung und Leichtsinnigkeit. In Polen, in Deutschland, in Österreich, in Großbritannien und in Amerika - wohin das Auge reicht.

Merken die Menschen, dass es ihnen besser geht, oder glauben sie, dass sie von dem Kuchen nicht einen Krümel abbekommen haben, oder sind sie nur sauer, weil der Nachbar immer noch ein besseres Auto fährt als sie? Ich entschied an diesem Morgen, um nicht jeden Tag Kopfschmerzen zu haben, eine Woche lang nur die Titelseiten zu lesen und dies auch nur einmal täglich, um zu überprüfen, ob die Welt, die ich kenne, überhaupt noch existiert. Von der Terrasse aus sah alles sowieso nicht mehr in Ordnung aus. Das Gras ist gelbbraun geworden, es hat seit Mai nicht einmal vernünftig geregnet, es gibt keine Äpfel auf dem Baum, keine Wespen - und die Bienen vom Nachbarn summen auch nicht mehr vor sich hin. Es ist trotzdem schön und ruhig und der Kaffee schmeckt. Die Hitze war in Berlin kaum zu ertragen. Die Bücher waren schwer zu lesen und die Nachrichten ermüdend. Eine Sehnsucht nach Langeweile, nach Muße, nach Nichtstun, nach Luft und Freiheit saß seit Beginn des Sommers tief in mir.                  

Gleichzeitig begann ich mit Freunden, Familie, Nachbarn und Mitreisenden, denen ich im Zugabteil zufällig begegnet war, politische Gespräche zu führen. Wer ist hier noch verantwortlich oder, seien wir ambitionierter, wer kann mir sagen, wohin die Reise in Europa überhaupt geht? Warum passt das alles nicht mehr zusammen? Was spricht den Menschen aus der Seele? Die mit viel Kalkül durchdachten Antworten von Politikern kennen wir auswendig. Nur was denken die polnischen Jan und Maria Müller-Kowalskis? Die Antworten erhielt ich erstaunlich schnell. Es sah aus, als hätten die Menschen nur auf meine Fragen gewartet. Sie wollten mir so viel erzählen, dass ich mich oft mit Tricks von ihnen lösen musste.

Patriotisches Gemüse 

Politik ist in Polen das erste Gesprächsthema bei Kaffee und Kuchen, beim Grillen, an der Haltestelle, wenn der Bus nicht kommt, im Zug, im Blumengeschäft und auf dem Markt einer Kleinstadt, wo ich polnische Tomaten kaufen wollte. "Nationale" Gurken, Tomaten und Pflaumen erweckten eine Diskussion, die gigantische Ausmaße auf dem Markt annahm. Für wen ist es besser, wenn die Erdbeeren als "regionale Ware" oder als polnisches Obst angeboten werden? Sind vielleicht die Bio-Befürworter, die nur lokal einkaufen, schreckliche Nationalisten und diejenigen, die im Supermarkt standardisierte Tomaten aus Holland oder Spanien kaufen, stärkere Europäer?

Die Frage meinte ich ironisch, aber sie wird uns demnächst ganz sicher länger beschäftigen. Meine Oma verkörperte ein Ideal, dem wir heutzutage nachstreben. Sie stammte aus einer Welt, in der die Vertrautheit ziemlich genau nach 30 Kilometern zu Ende war. Sie aß und lebte ihr Leben lang regional und bio, ohne es so zu nennen, geschweige denn zu erahnen, wie "bio" sie damit war. Ich wohne 40 Jahre später mehr als 600 Kilometer von der Heimat entfernt und trinke gerade eine Bio-Limonade aus Guave und Paprika, die schrecklich nach dem Wasser von eingelegten Paprika schmeckt. Woher die Zutaten kommen, steht nicht drauf, aber hergestellt wurde die Limo in Hamburg. Ein echtes Alltagsdilemma, das mir beim Kauf und Durstlöschen nicht bewusst war. 

Sind Menschen, die nur "regionale" Tomaten kaufen, Nationalisten?
Sind Menschen, die nur "regionale" Tomaten kaufen, Nationalisten? Bild: picture-alliance/M. Raedlein

Reisen bildet  

Ich reise gerne mit der Bahn. Mitte Juni sah ich auf dem Bahnsteig in Stettin einen älteren Herren mit seiner Tochter. Das Mädchen, Anfang zwanzig, sah hübsch aus, war nett gekleidet, wirkte aber ein wenig gestresst. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich wünschte, dass der Zug endlich käme und der Vater wegführe. Nicht, dass sie unhöflich war. Sie hatte den Vater umarmt und sich bei ihm bedankt, aber eine Erleichterung, als der Zug kam, war dennoch in ihrem Gesicht zu lesen. Der Vater sah aus wie aus der Zeit gefallen. Als käme er direkt aus den 1980er Jahren, hatte er alte Hosen an und eine Discounter-Plastiktüte in der Hand. Er sah wie ein Bauer aus meiner Kindheit aus. Ich vermutete, er hätte der Tochter beim Umzug geholfen, vielleicht die Wände in der neuen Wohnung gestrichen.

Die beiden gehörten offensichtlich nicht nur verschiedenen Generationen, sondern auch anderen Welten an. Ich dachte, dass er sicher politisch die polnische Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" wählt, also rechtskonservativ, so gesehen ein klassischer polnischer Stereotyp: alt, männlich, PiS-Anhänger. Zu meiner Überraschung oder wie es das Schicksal wollte, saß mir der Herr plötzlich im Zug gegenüber. Ich hatte ein Buch über Pädophilie-Skandale in der polnischen katholischen Kirche auf dem Schoß. Ich las ein bisschen, atmete manchmal tief durch und schaute mir zur Entspannung die Landschaft an. Das Buch weckte Interesse und ein Gespräch zwischen mir und den beiden ebenfalls neben mir sitzenden alten Damen begann. Niemand hatte Verständnis für die Kirche, die Damen erklärten sich als katholisch, hatten aber nicht die Absicht, sich der Rhetorik der polnischen Bischöfe, die jeden Skandal nur als Einzelfall deklarierten, zu fügen. 

Feuerrede für Europa im polnischen Regionalzug

Der Herr mit der Tüte in der Hand schwieg. Die Damen stiegen aus, ich las weiter. Nach etwa einer Stunde fragte er mich plötzlich, woher ich käme. Ich antwortete, dass ich aus Südpolen sei, aber seit fast 20 Jahren auch aus Berlin. Die Frage ist für mich nie einfach zu beantworten. Der Herr öffnete mir sein Herz. Er lobte die neuen Straßen in Polen und staunte, wie großzügig die Subventionen für die Landwirtschaft seien: "Zum ersten Mal hat man uns geholfen!" Er freute sich, dass seine Tochter Fremdsprachen lernt, dass deutsche Touristen kommen und wir uns endlich als Nachbarn und nicht als Feinde sehen, und er schimpfte auf die Regierung! Ich traute meinen Ohren nicht, als ich dieser Feuerrede für Europa in diesem Regionalzug von Stettin nach Swinemünde zuhörte und schämte mich ein wenig dafür, wie falsch ich mit meiner Einschätzung gelegen hatte. Der Herr wünschte mir ein schönes Wochenende und stieg mit der zerknitterten Tüte an einem kleinen Haltepunkt aus, wo keine Häuser zu sehen waren. 

Auf dem Rückweg von Stettin saßen im Zug polnische junge Männer, einer trug ein T-Shirt mit dem polnischen Adler und dem Schriftzug "Tod den Feinden des Vaterlandes". Sie tranken Bier und fuhren nach Berlin zur Arbeit. Daneben sprachen polnische Pflegerinnen darüber, dass sie statt für die eigenen Enkelkinder für die Alten in Deutschland sorgen mussten. Ein Gespräch zwischen uns fand nicht statt, es ergab sich einfach nicht. Zwei Stunden im Zugabteil zweiter Klasse zeigen das Leben manchmal komplexer und sind mehr wert als viele analytische Bücher.       

Urszula Ptak, polnische Publizistin, schreibt über Geschichte und aktuelle Politik. 2019 hat sie den Deutsch-Polnischen Tadeusz-Mazowiecki-Journalistenpreis bekommen.