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Mein Kunst-Stück

Andrea Horakh, Ulrike Sommer (spe)24. April 2007

In der letzten Folge unserer Serie "Mein Kunst-Stück" präsentiert der Dirigent Marek Janowski eine echte Rarität: die Original-Partitur von Beethovens 9. Sinfonie.

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Marek Janowski hört die hymnische Komposition mit den Augen
Marek Janowski hört die hymnische Komposition mit den AugenBild: DW

Die Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden hütet einen Schatz. Nur wenige Auserwählte bekommen ihn zu Gesicht. Einer von ihnen ist der Chefdirigent des Berliner Rundfunk-Sinfonie-Orchesters, Marek Janowski. Für ihn kommt - für kurze Zeit - aus dem Tresorraum, was selbst bei einem Musiker von Weltrang Herzklopfen auslöst: Notenblätter, aus der Feder Ludwig van Beethovens, die Originalpartitur der 9. Sinfonie.

Beethoven komponiert: Gemälde von Carl Schloesser (1832-1914)
Beethoven komponiert: Gemälde von Carl Schloesser (1832-1914)Bild: picture-alliance / akg-images

Der in Warschau geborene und in Deutschland ausgebildete Musiker Janowski besitzt selbst eine Reihe von Faksimiles, auch das Faksimile der "Neunten" von Beethoven. Trotzdem findet er: "Wenn man dann vor der eigentlichen Handschrift, vor dem Papier steht, auf dem das geschrieben wurde, ist das schon ein sehr, sehr spezielles Gefühl."

Fast neun Jahre schreibt Beethoven an der 9. Sinfonie. 1824 ist sie fertig - und der Meister so gut wie taub. Löcher im Papier zeugen von temperamentvollen Korrekturen mit dem Rasiermesser. Deutlich sieht man: Beethoven komponiert noch bei der Niederschrift. "Es gibt Seiten", erklärt Janowski, "wo man, wenn man die zum ersten Mal vor sich sieht, nicht weiß, wo oben und unten ist - selbst wenn man die Stelle aus der gedruckten Partitur sehr gut kennt."

"Seid umschlungen, Millionen"
"Seid umschlungen, Millionen"Bild: picture-alliance/dpa

Für die damaligen Kopisten der Partitur war das Schwerstarbeit. Das Genie war voller Verzweiflung und Wut, wenn er einen Fehler entdeckte. Auf der Partitur beschimpft er seinen Kopisten als "Erzesel". Beethoven war nicht zimperlich, erzählt der Dirigent. "Man weiß natürlich auch, dass Beethoven selbst in nicht verzweifelten Phasen seines Lebens eine aggressive Wortwahl nie verschmäht hat."

In seiner berühmten Sinfonie aber herrscht Harmonie: Der 5. Satz, die Ode an die Freude, wurde weltweit zum Symbol für Völkerverständigung. Leonard Bernstein dirigiert sie 1989 nach dem Fall der Mauer. Die Teilung Berlins ging früher auch mitten durch die Partitur - ein Teil lag im Osten, ein Teil im Westen der Stadt. Heute ist sie wiedervereint - und die Ode ist Europahymne.

Die UNESCO nahm 2001 die Originalpartitur des "Menschheitsgesangs" in der Berliner Staatsbibliothek in ihr Verzeichnis "Gedächtnis der Welt" auf. Für Marek Janowski ist die ganze Sinfonie ein einziges Wunder. "Aber der wertvollste Satz ist für mich der langsame dritte. Beethoven ist in meinen Augen der Dreh- und Angelpunkt der Musikgeschichte der zivilisierten Menschheit."

Für Beethoven ist die Uraufführung der 9. Sinfonie der letzte große Triumph vor seinem Tod. Trotz seiner Taubheit dirigiert er selbst mit. Den Applaus aus dem Publikum aber kann er nicht mehr hören.