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Besserwisserei nach dem Hochwasser hilft niemandem

19. Juli 2021

Hinterher sind alle schlauer. Aber wer jetzt der Politik und dem Katastrophenschutz "Systemversagen" vorwirft, unterschätzt die Macht der Natur, meint Fabian Schmidt.

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Der ort Schuld im Landkreis Ahrweiler in Rheinland-Pfalz nach dem Hochwasser
Wenn plötzlich jahrhundertealte Ortskerne weggeschwemmt werden, kann das niemand voraussehen. Bild: Wolfgang Rattay/REUTERS

Es ist zwar allzu menschlich, nach dieser verheerenden Naturkatastrophe Schuldige zu suchen, aber dadurch wird niemandem geholfen – schon gar nicht den Opfern, den Hinterbliebenen und jenen, deren Existenzen die unermesslichen Wassermassen innerhalb von Minuten weggespült haben. 

Diese Besserwisserei nervt mich: So wie Deutschland nach einem verlorenen Fußballspiel der Nationalmannschaft 80 Millionen Bundestrainer hat, scheinen jetzt alle Katastrophenschützer zu sein.

Und das nicht nur in Deutschland. Die britische Hydrologin Hannah Cloke erhob in der Sunday Times  und im öffentlich-rechtlichen Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF)  den Vorwurf, dass die Warnungen des Europäischen Hochwasserwarnsystems EFAS,  die Menschen in Deutschland nicht rechtzeitig erreicht hätten. Dies sei ein "monumentales Systemversagen." FDP-Fraktionsvize Michael Theurer  griff das Argument auf und sagte, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer dafür "unmittelbar die persönliche Verantwortung" trage. Das macht sich gut im Wahlkampf. Dumm nur: Die Behauptung stimmt gar nicht.

Zum Beispiel hatte der öffentlich-rechtliche Informationskanal WDR 5 bereits am Dienstag früh um 8 Uhr, also mehr als 24 Stunden vor Beginn der Katastrophe, folgende Meldung gebracht: "Der Deutsche Wetterdienst warnt vor schweren Gewittern mit heftigem, gebietsweise extremem Starkregen", weiterhin warnte der Sender vor "langanhaltendem gewittrigem Regen mit Unwetterpotential. Örtlich muss mit Hagel, Hochwasser und Überschwemmungen gerechnet werden."

Wer den Wetterbericht verfolgt hatte, konnte also ahnen, was kommt. Wer dazu noch den Niederschlagsradar verfolgt hatte, oder einfach aus dem Fenster geschaut hat, wusste es erst recht.

Globale Warnsysteme können lokale Katastrophen nicht kommen sehen 

Was indes niemand wissen konnte und worauf sich auch niemand vorbereiten konnte, waren die extremen schnell kommenden Sturzfluten in Orten wie Schuld an der Ahr.  Es gibt einfach Naturgewalten, die so unberechenbar sind, dass wir ihre verheerende Kraft selbst mit vorausschauender Ingenieurskunst und aller Technik nicht prognostizieren können. Und das kann EFAS auch nicht.

Schmidt Fabian Kommentarbild App
DW-Redakteur Fabian Schmidt

Frühwarnsysteme können uns vor relativ langsam steigendem Hochwasser warnen, aber nicht vor rapiden Sturzbächen. Unsere jahrhundertealten Erfahrungen mit Hochwassern sind nach Menschenermessen der Maßstab für den Hochwasserschutz und dafür, wo überhaupt gebaut werden darf.

In Schuld wurden hingegen jahrhundertealte Fachwerkhäuser weggespült, die schon viele frühere Hochwasser überstanden hatten. Es wurden Brücken zerstört, die erst in den letzten Jahrzehnten nach bestem Wissen und Gewissen unter Berücksichtigung möglicher Hochwasser errichtet und erneuert worden waren. 

Selbst der beste Hochwasserschutz stößt an seine Grenzen

Und auch das Argument, dass Flussbegradigungen, Kanalisation und Bodenversiegelung für die Katastrophe verantwortlich zu machen sei, stimmt im Falle der Ahr ausnahmsweise mal nicht. Die Ahr ist nämlich ein wenig verbauter Fluss, der weitgehend seinem natürlichen Verlauf folgt.

Auch die Katastrophe von Erftstadt war weder vom Katastrophenschutz noch von den Bürgern leicht vorhersehbar gewesen. Dort hatte ein überlasteter Fluss zuerst eine Kiesgrube geflutet und diese dann so stark aufgeweicht, dass Teile eines angrenzenden Ortes davon regelrecht verschluckt wurden. In einer von Menschenhand über Jahrtausende so stark umgegrabenen Region wie dem Rheinischen Braunkohlerevier, wo Erftstadt liegt, dürfte uns noch so manche Überraschung dieser Art erwarten.

Nicht nur auf elektronische Gadgets starren

Nun gibt es auch viel Kritik an den zum Teil späten und widersprüchlichen Hinweisen von öffentlichen Warn-Apps wie KATWARN oder NINA . Diese hätten Menschen eher dazu verleitet zu Hause zu bleiben, als vor den Fluten zu fliehen, und der empfohlene Evakuierungsbereich sei zu schmal gewesen. Zudem hätten die Apps versagt, als der Strom ausgefallen ist. 

Wie kam es zur Flutkatastrophe? – Hydrologe Bruno Merz im Gespräch

Aber eine App kann ja nicht wissen, wo genau demnächst ein Haus von den Fluten zerstört wird. Vielleicht können die Verantwortlichen daraus sogar etwas lernen und die Apps weiter verbessern. Aber die wichtigste Lehre, die wir alle daraus ziehen sollten, ist doch, dass wir uns in Unwetter-Situationen nicht in erster Linie auf die schönen neuen digitalen Spielzeuge verlassen sollten, sondern alle unsere Sinne gebrauchen.

Und manchmal wäre es auch nicht schlecht, bewährte analoge Technik nicht gleich über Bord zu werfen, wie etwa das ehemalige Telefonnetz, das auch bei Stromausfall noch funktioniert hätte.

Wen trifft die nächste Katastrophe?

Nach dem Wiederaufbau werden die Menschen an der Ahr sicher auch ein viel besseres Frühwarnsystem bekommen. Doch das nächste Unwetter trifft dann vielleicht einen ganz anderen Fluss und ein anderes Dorf, das nicht so gut vorbereitet ist, irgendwo im Thüringer Wald, im Harz oder in den Alpen. Es ist nicht vorhersehbar, das liegt in der Natur der Sache.

Die bittere Wahrheit bleibt: Es gibt einfach Naturgewalten, die stärker sind als wir Menschen und die so schnell und unerwartet zuschlagen, dass es keine Systeme gibt, die uns dafür wirklich frühzeitig warnen können. 

Was bleibt? Bei Architektur und Stadtplanung aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen, besser und sicherer bauen und hoffen, dass es das nächste Mal nicht noch schlimmer kommt. Und wir müssen einfach mal akzeptieren, dass wir nicht für jedes Problem einen Schuldigen brauchen. 

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Fabian Schmidt Wissenschaftsredakteur mit Blick auf Technik und Erfindungen