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Politik

Warum die Impfpflicht jetzt nichts bringt

Joscha Weber Bonn 9577
Joscha Weber
26. November 2021

Deutschland streitet über die Impfpflicht. Angesichts explodierender Corona-Infektionszahlen soll sie die Wende bringen. Ein Irrtum: Ihr Effekt käme viel zu spät. Wir brauchen jetzt andere Maßnahmen, meint Joscha Weber.

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Coronavirus: Proteste gegen Impfungen in Melbourne, Australien (Foto: dpa)
Die Impfpflicht polarisiert: Wie hier in Australien gehen Impfgegner auf die Straße. Was wäre der Preis einer Impfpflicht?Bild: Luis Ascui/dpa/picture alliance

Die Deutschen sind eine Konsensgesellschaft, das ganze politische System fußt auf diesem Gedanken: Man debattiert, aber dann findet man einen mehrheitstauglichen Kompromiss. Es gibt wenige Themen, die das Land nachhaltig entzweien. Der Umgang mit der millionenfachen Ankunft von Flüchtlingen 2015 war eine dieser Ausnahmen. Unversöhnlich standen sich zwei Lager in einer hoch emotionalisierten Debatte gegenüber. Das ist nun wieder so. Die Frage einer Corona-Impfpflicht spaltet das Land.

Die einen wollen sie (inzwischen), die anderen lehnen sie strikt ab. Der Spiegel (72 Prozent), das Meinungsforschungsinstitut YouGov (69 Prozent) und der ARD-Deutschlandtrend (57 Prozent) sehen eine mehr oder weniger klare Mehrheit für die Impfpflicht, die Bild-Zeitung eine Mehrheit dagegen (70 Prozent). Unabhängig davon, welche dieser Zahlen nun stimmen mag: Der Streit um die Impfpflicht kommt zur völlig falschen Zeit. 

Die Impfpflicht hilft uns jetzt nicht

Die Corona-Infektionszahlen explodieren, in den jetzt schon überlasteten Kliniken droht die Triage und die Ansteckungen unter den Kindern erreichen schwindelerregende Höhen. 100.000 Menschen sind in Deutschland bereits an COVID-19 gestorben, der Virologe Christian Drosten warnt vor 100.000 weiteren, konservativ geschätzt. Deutschland, das bislang vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie kam, blickt in den Corona-Abgrund. Kann die Impfpflicht das Schlimmste verhindern? Leider nein.

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DW-Redakteur Joscha Weber: "De facto lenkt die Debatte um die Impfpflicht von der eigentlichen Frage ab: Wann geht Deutschland in den Lockdown?"

Man stelle sich das Ganze doch mal konkret vor: Angenommen, die Impfpflicht würde nächste Woche beschlossen (was angesichts des laufenden Übergangs von alter zu neuer Regierung nicht sehr realistisch ist), so würden selbst bei optimalem Ablauf Monate vergehen, bis alle Noch-nicht-Geimpften Impftermine und dann einen vollständigen Schutz aus Erst- und Zweitimpfung hätten. Und das auch nur, wenn die bislang Impfunwilligen nun alle brav zur Impfung gehen (ebenfalls unrealistisch). Da die Impf-Kapazitäten aber aufgrund einiger katastrophaler Entscheidungen im Impf-Management schon für die gleichzeitig anstehenden Booster-Impfungen nicht reichen, ist mit weiteren Verzögerungen zu rechnen. Vorsichtig formuliert.

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Die Desinformation darf nicht gewinnen

Darüber hinaus hätte eine Impfpflicht - so sie denn den garantiert kommenden Verfassungsbeschwerden standhält - einige unschöne Nebenwirkungen. Längst fühlen sich Impfgegner in die gesellschaftliche Ecke gedrängt. Selbst schuld, könnte man sagen. Aber: In die Enge getrieben, emotionalisiert und ein Stück weit auch stigmatisiert, sind viele von ihnen offen für jene Botschaften, die ihnen einen Ausweg versprechen. Populisten und Verschwörungstheoretiker nutzen das.

Wenn sich all die Versprechen der Politik, dass es keine Impfpflicht geben werde, plötzlich in Luft auflösen, gewinnen sie. Das Narrativ der Desinformation, dass eine große Verschwörung aus Politik, Pharmaindustrie und Medien am Ende alle zur Impfung zwingen wird, würde sich in ihren Augen bestätigen, siehe Österreich. Den Gefallen darf man ihnen nicht tun. Die nachhaltige Abkehr einer gar nicht so kleinen Minderheit von Politik und Demokratie wäre die Folge.

Es gibt aber noch einen anderen Grund der aktuell gegen eine Impfpflicht spricht: Berechnungen zeigen, dass ihr Effekt verglichen mit anderen Maßnahmen eher klein ausfällt. Ein Team von Mathematikern von der Hochschule Mittweida hat unter Berücksichtigung zahlreicher Faktoren wie der Impfstoff-Effektivität oder der Infektiosität der Virusvarianten ein Simulationsmodell erstellt, das zeigt, welche Maßnahmen wirken und welche weniger. Ergebnis: Auch mit einer bereits am kommenden Montag beschlossenen Impfpflicht würden die akuten Infektionen weit über die Zwei-Millionen-Marke schießen.

 

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Die unpopuläre Wahrheit: Nur der Lockdown hilft jetzt

De facto lenkt die Debatte um die Impfpflicht von der eigentlichen Frage ab: Wann geht Deutschland in den nächsten Lockdown? Nur noch erneute strenge Kontaktbeschränkungen können die rasante Virus-Ausbreitung aufhalten. Das ist eine unpopuläre Wahrheit, die niemand hören will, weil sie alle Bereiche des Lebens hart trifft. Aber es geht nicht anders.

Denn es geht um Menschenleben. Bleibt es bei den bisherigen Corona-Maßnahmen, muss Deutschland mit fast 300.000 weiteren COVID-Toten rechnen. 300.000. Eine unglaubliche Zahl, die Kristan Schneider von der Hochschule Mittweida in seinem Differentialgleichungsmodell errechnet hat. Es ist nur eine Berechnung, ja - aber eine mit realistischen Annahmen. Die Impfpflicht allein hilft nach seinen Berechnungen nur mittelfristig und das auch nur bedingt. Es könnten immer noch weit über 200.000 weitere Menschen sterben. Schneider schlussfolgert: "Die Kontaktbeschränkungen sind die effektivste Maßnahme, die wir haben. Nur noch ein Lockdown hilft jetzt." Und deshalb muss Deutschland nun die Notbremse ziehen, Kontakte wieder einschränken. Jedes Menschenleben ist kostbar. Das sollte in Deutschland wieder Konsens sein.