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Der Erpressungsversuch von Gazprom

Wirtschaftskolumnist der Deutschen Welle Andrey Gurkov
Andrey Gurkov
18. September 2021

Moskaus Bestreben, grünes Licht für die Inbetriebnahme von Nord Stream 2 zu erzwingen, läuft bislang ins Leere. Denn die Öffentlichkeit hat die Preisexplosion auf dem Gasmarkt noch gar nicht bemerkt, meint Andrey Gurkov.

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Vielzahl von großen Rohren und Absperrhähnen
Hier wird das Gas aus Nord Stream 2 übernommen und in die Pipelines auf deutschen Boden eingespeistBild: picture-alliance/dpa/S. Sauer

Was zurzeit auf dem europäischen Gasmarkt passiert, lässt sich gut mit dem Satz beschreiben: "Stell Dir vor, der Preis explodiert, aber keiner schaut hin". Dies muss sehr frustrierend auf die Chefs von Gazprom wirken, denn in Moskau hatte man sich eine clevere Erpressung der Europäer ausgedacht, aber diese sorglosen Kunden haben es nicht einmal bemerkt.

Der russische Staatskonzern verfolgt nämlich seit Monaten das offensichtliche Ziel, von den Europäern eine schnelle und bedingungslose Betriebserlaubnis für die Nord Stream 2 zu erzwingen. Denn um gleich beide Stränge dieser neuen Gaspipeline in vollem Umfang in Betrieb nehmen zu können, was den Energiemarktgesetzen der EU widersprechen würde, braucht Gazprom eine Ausnahmeregelung, die ihm bisher verwehrt blieb. 

Europa geht ohne große Gasreserven in diesen Winter

Um seinem Anliegen Nachdruck zu verschaffen, hat Europas größter Gaslieferant den ganzen Sommer lang seine Speicher in der EU ausverkauft und gleichzeitig demonstrativ keine Transportkapazitäten durch die Ukraine und Polen zusätzlich zu den vertraglich fest vereinbarten gebucht. Das hat dazu geführt, dass wenige Wochen vor Beginn der Heizperiode der Füllstand der europäischen Speicher auf einem Rekordtief liegt und die Großhandelspreise auf im September regelrecht durch die Decke gegangen sind. Ein weiterer Grund für diesen Zustand besteht darin, dass LNG-Tanker mit Flüssiggas aus aller Welt monatelang hauptsächlich Asien ansteuerten, wo die Preise noch höher waren.

Gurkov Andrey Kommentarbild App
DW-Redakteur Andrey Gurkov

Europa steht somit vor diesem Winter ohne die gewohnten Gasreserven da. Wenn es also früher als gewöhnlich oder besonders lange kalt werden sollte, werden europäische Wärme- und Stromversorger höchstwahrscheinlich horrende Preise auf dem Spotmarkt zahlen müssen. Oder sie greifen verstärkt auf Kohle und Öl zurück, die sich dann auch verteuern würden. Diese Zusatzkosten werden die Firmen dann zumindest teilweise auf die Endverbraucher umlegen.

In dieser Situation meldete Gazprom Anfang September, dass Nord Stream 2 nun fertiggestellt sei. Und Moskau ließ die Europäer auf verschiedenen subtilen Wegen wissen (neuerdings beispielsweise über Putins Pressesprecher), dass die Versorgung Europas in diesem Winter sichergestellt wäre und die Preise ganz bestimmt fielen, wenn denn nur die komplette neue Pipeline möglichst schnell ans Netzt gehe. 

Preisanstieg in der EU Thema in Russland

Sollte man in Moskau damit gerechnet haben, dass unter diesen Umständen die besorgten europäischen Endverbraucher ihre Regierungen enorm unter Druck setzen, so hat man sich gründlich verkalkuliert.

Es sind nämlich lediglich diverse russische Medien, die seit Wochen darüber berichten, dass die Europäer in diesem Winter entweder frieren oder ganz tief in die Tasche greifen werden. Dass die Preise für 1000 Kubikmeter Gas in der EU erst 600 Dollar erreicht hatten, dann die 750 hinter sich gelassen und auf die 800 zustürmten. Am 15. September dann die Meldungen: Es sind bereits 950, fast 1000 Dollar!

Kaum Reaktionen in deutschen Medien

Doch im Unterschied zu den russischen Medienkonsumenten hat die breite europäische Öffentlichkeit nichts davon mitbekommen und reagiert deshalb auf das Spiel von Gazprom auch nicht erwartungsgemäß. Das trifft im Besonderen für Deutschland zu, den mit Abstand größten Importeur russischen Erdgases.

Die deutschen Medien haben dem monatelangen Anstieg der Großhandelspreise in der EU kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Vor allem aber haben sie das jüngste spekulative Treiben auf dem Spotmarkt nahezu völlig ignoriert. Das Thema blieb vielleicht auch deshalb außen vor, weil deutsche Energieversorger Gas in aller Regel über längerfristige Verträge mit festen Preisen beziehen, die Preislawine also einfach noch nicht bei den Endkunden angekommen ist.

Infografik Karte Nord Stream 2 DE
Die Pipeline Nord Stream 2 ist vor wenigen Tagen fertiggestellt worden

Steilvorlage für Grüne und FDP

Sollten jedoch in nächster Zeit immer mehr Versorgungsunternehmen gezwungen sein, angesichts der sich abzeichnenden Gasknappheit ihre Preise anzuheben, könnte das Problem doch noch in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rücken. Das würde in Deutschland wohl gerade in die Zeit der Koalitionsverhandlungen nach den Wahlen am 26. September fallen.

Die Diskussion dürfte dann aber eine Wendung nehmen, die ganz und gar nicht im Sinne Gazproms wäre: Die Grünen, entschiedene Gegner der Pipeline, hätten eine Steilvorlage, um ihrer Forderung nach einem Stopp des Projekts Nachdruck zu verleihen. Und auch den Liberalen von der FDP dürfte der Erpressungsversuch des russischen Staatsmonopolisten kaum schmecken. Beide Parteien werden bei der Bildung der künftigen deutschen Regierung mit großer Wahrscheinlichkeit mit am Tisch sitzen.

Wie wurde diese Abhängigkeit von Russland möglich?

Daher wird sich die Diskussion garantiert nicht darum drehen, wie man beiden Strängen der Nord Stream 2 möglichst schnell eine Betriebserlaubnis erteilt, obwohl das den Preisdruck sicherlich mindern würde. Stattdessen werden wohl Forderungen nach einer noch schnelleren Energiewende laut werden, um die offensichtliche Anhängigkeit von russischen Energielieferungen zu reduzieren.

Bestimmt wird man sich auch fragen, wie es dazu kommen konnte, dass die größten Erdgasspeicher in Deutschland und Österreich unter die Kontrolle eines vom Kreml kontrollierten russischen Unternehmens gerieten. Möglicherweise kommt zunächst der Vorschlag, künftig den privaten Speicherbetreibern gesetzlich einen hohen Mindestfüllstand zu Beginn der Heizperiode vorzuschreiben. 

Daher sollte man sich in Moskau vielleicht sogar freuen, dass Deutschland den russischen Erpressungsversuch bislang ignoriert. Das erspart Gazprom vorerst viel Ärger auf seinem größten Absatzmarkt, auf dem man ohnehin schon intensiv darüber nachdenkt, wie man den Ausstieg aus den fossilen Energien beschleunigen könnte.