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Politik

Deutschland steht zu Recht am Pranger

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
9. Juni 2021

Was man von Ungarn oder Polen verlangt, muss auch für Deutschland gelten. Die EU-Rechtsordnung ist unantastbar, meint Bernd Riegert.

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Deutschland Justitia auf dem Gerechtigkeitsbrunnen in Frankfurt
Bild: picture-alliance/dpa/A. Dedert

Gleiches Recht für alle. Das gilt auch für die Mitgliedsstaaten in der Rechtsgemeinschaft Europäische Union. Wenn man rechtsstaatliche Defizite in Polen und Ungarn völlig berechtigt kritisiert, darf man zu rechtsstaatlichen Problemen in anderen Mitgliedsstaaten, in diesem Falle Deutschland, keinesfalls schweigen. Die EU-Kommission handelt mit ihrem Verfahren, das am Mittwoch gegen Deutschland eingeleitet wurde, logisch und konsequent.

Die Fälle in Polen und Ungarn sind mit dem Konflikt in Deutschland nicht zu vergleichen. Es geht aber um das Prinzip, dass EU-Recht über nationalem Recht steht und für alle Institutionen - auch Gerichte - bindend ist. Darauf fußt die ganze Konstruktion der Europäischen Union.

Beispielloses Urteil aus Karlsruhe

Ausgerechnet dieses Prinzip stellte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor einem Jahr in Frage. Es entschied, die Europäische Zentralbank habe teilweise verfassungswidrig Anleihen erworben, obwohl der Europäische Gerichtshof dies für zulässig erklärt hatte.

Riegert Bernd Kommentarbild App
Europa-Korrespondent Bernd Riegert

Die Karlsruher Richter, die traditionell die Kompetenz des übergeordneten Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg anzweifeln, urteilten dann, der EuGH habe "ultra vires", also außerhalb seiner Gewalt gehandelt. Ein beispielloser Vorgang, eine Sensation, die schon vor einem Jahr dazu geführt hatte, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland drohte.

Die EU-Kommission kam nach einem Jahr Bedenkzeit, in dem das Bundesverfassungsgericht sich noch einmal hätte korrigieren können, zu dem Schluss, dass die Rechtsordnung der EU in Gefahr sei. Vor allem geht es in Brüssel um die Signalwirkung.

Autorität des EuGH in Gefahr

Ließe man das anmaßende Urteil aus Karlsruhe ohne Folgen, könnten sich Gerichte und Behörden in anderen Mitgliedsstaaten darauf berufen und behaupten, auch für sie gelten Urteile des EuGH nicht. Die Autorität des Europäischen Gerichtshofes wäre dahin. Die rechtsstaatliche Ordnung der EU ginge flöten.

Argumente, um dem ungarischen Premier Orban und anderen zur illiberalen Demokratie tendierenden Regierungen Contra zu geben, hätte man keine mehr. Die ohnehin nur schleppend verfolgten Rechtsstaatlichkeits-Verfahren gegen Ungarn oder Polen würden in sich zusammenfallen. Der neue Mechanismus im EU-Haushalt, der zur Rechtsstaatlichkeit beim Empfang von Geldern verdonnert, bräuchte gar nicht erst angewendet werden.

Kein Angriff auf die Unabhängigkeit der Gerichte

Das Verfahren gegen den Mitgliedsstaat Deutschland, der von der Bundesregierung vertreten wird, richtet sich nicht gegen die Unabhängigkeit der Gerichte in Deutschland. Es zeigt nur die Grenzen auf, in dem sich auch das deutsche Verfassungsgericht bewegen müsste. Europarecht hat Vorrang, auch wenn die Karlsruher Richter immer wieder versucht haben, mit sogenannten "bis hierhin und nicht weiter"- Entscheidungen die Rechtsprechung des EuGH zu relativieren. Mit dem "ultra vires"- Spruch hat das Bundesverfassungsgericht aber eine Grenze überschritten und der Bundesregierung ein schwer zu lösendes Rätsel beschert.

Die hat jetzt zwei Monate Zeit, eine Stellungnahme abzugeben und Lösungswege aufzuzeigen. Fällt die Antwort unbefriedigend aus, kann die EU-Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Erwartete Verfahrensdauer: mindestens zwei Jahre.

Dutzende Verfahren pro Monat

Ein solches Vertragsverletzungsverfahren ist nichts Ungewöhnliches. Die EU-Kommission strengt jeden Monat Dutzende davon an, auch gegen Deutschland. Dabei geht es meistens um die mangelhafte Umsetzung von EU-Recht in nationales Recht. Diesmal ginge es jedoch um einen wirklich schweren Brocken - um den Kern der Rechtsordnung in Europa.

Ein Ausweg wäre, die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, zu ändern und die Kompetenzen des Verfassungsgerichts zu klären. Diese "nukleare Option" wird in Berlin aber ausgeschlossen. Jetzt sind fantasievolle Juristen gefragt, sich einen Ausweg auszudenken, der europäischem Recht entspricht, in Deutschland keinen Konflikt der Verfassungsorgane Bundestag, Bundesrat, Regierung und Gericht heraufbeschwört und möglichst noch alle Seiten das Gesicht wahren lässt. Auch wenn das mühsam wird: Gleiches Recht für alle.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union