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GesellschaftDeutschland

Die Mär von der gespaltenen Gesellschaft

12. Dezember 2021

Aufgeregte Debatten bei Twitter, Facebook und Co. verzerren die Wirklichkeit. Dass liegt auch daran, dass Politiker, Aktivisten und Journalisten oft wie Getriebene agieren, meint Marcel Fürstenau.

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Proteste gegen Corona-Maßnahmen in Leipzig, auf einem Schild steht: "Zusammenhalt statt Spaltung"
"Zusammenhalt statt Spaltung" - Studien zeigen: So gespalten ist die Gesellschaft gar nichtBild: AFP

Impfpflicht! Dieses Wort hat das Potenzial, zum Unwort des Jahres 2021 gekürt zu werden. Aber hat es auch das Potenzial, die Gesellschaft zu spalten? Gefühlt auf jeden Fall. Denn der Streit um die sich in Deutschland abzeichnende Corona-Impfpflicht lässt die Wellen hochschlagen. Doch bevor man weiter den Teufel an die Wand malt und unreflektiert einer Polarisierung das Wort redet, lohnt sich ein Moment des Innehaltens. Und des Zuhörens.

Bemerkenswert ist zum Beispiel das, was der neue Bundeskanzler Olaf Scholz am Tag seiner Wahl in der TV-Sendung "Farbe bekennen" zum Stichwort Spaltung gesagt hat: "Ich halte nichts von dieser Sicht." Warum? "Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben sich impfen lassen." Stimmt. Fast 70 Prozent sind inzwischen vollständig immunisiert (Stand: 09.12.2021). Scholz fügte hinzu: "Und noch viel mehr finden das eigentlich richtig oder zumindest nicht prinzipiell falsch." Auch das stimmt.

Der Zusammenhalt ist größer als vermutet

Und erst recht traf der Sozialdemokrat mit diesem Satz ins Schwarze: "Weil eine lautstarke Minderheit jetzt sehr radikal vorgeht, dürfen wir nicht für die gesamte Gesellschaft eine Spaltung unterstellen." Bravo, Herr Bundeskanzler! Wer an seinem Befund zweifelt, möge Studien über Polarisierung und Populismus zur Kenntnis nehmen. Davon gibt es einige - und die Ergebnisse sind eindeutig: Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist größer, als von vielen vermutet.

In einer Untersuchung der Konrad-Adenauer-Stiftung schreibt der Wahl- und Sozialforscher Jochen Roose: "Zwei Drittel der Bevölkerung sind Anfang 2019 der Ansicht, es gäbe wenig oder keinen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Die wahrgenommene Polarisierung hat in der Corona-Pandemie abgenommen. Die Zustimmung zur Aussage 'In unserer heutigen Gesellschaft stehen sich die Menschen unversöhnlich gegenüber' ging von 41 Prozent vor der Pandemie auf 31 Prozent in der Pandemie zurück." Wohlgemerkt: So schätzen die Menschen in Deutschland die Situation selbst ein.

Soziale Medien sind auch asozial

Auch im "Populismusbarometer" der Bertelsmann-Stiftung finden sich beruhigende Sätze wie diese: "Aktuell sind nur noch etwa zwei von zehn Wahlberechtigten in Deutschland (20,9 Prozent) populistisch eingestellt. Das sind 11,8 Prozentpunkte oder etwas mehr als ein Drittel weniger als im November 2018 (32,8 Prozent)." Das widerspricht ebenfalls der weitverbreiteten Wahrnehmung einer sich immer feindseliger gegenüberstehenden Gesellschaft.

Doch woran liegt es, dass so viel von Spaltung, Polarisierung und Verschwörungstheorien die Rede ist? Eine Erklärung ist, dass wir in einer sogenannten Medien-Demokratie leben. Positiv daran ist, dass sich im digitalen Zeitalter theoretisch alle jederzeit zu allem äußern können. Den Sozialen Medien sei Dank! Die negative Seite von Facebook, Twitter, Instagram und wie sie alle heißen ist ihr zügelloses Erregungspotenzial. Und da greifen uralte Reflexe: Je lauter, je schriller jemand daherkommt, desto mehr Aufmerksamkeit ist garantiert.

Twitter ist ein absolutes Minderheiten-Medium

Nun ließe sich unter Verweis auf eine Studie der öffentlich-rechtlichen Sender einwenden, dass nur eine Minderheit in Deutschland Soziale Medien nutzt. Mindestens einmal pro Woche waren 2020 bei Facebook 26 Prozent aktiv, Instagram verzeichnete einen Wert von 20 und Twitter von lediglich fünf Prozent. Allerdings gibt es Menschen in bestimmten Milieus, die sich auf diesen Kanälen besonders stark tummeln: Politiker, Aktivisten jeglicher Couleur und Journalisten.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
DW-Korrespondent Marcel FürstenauBild: DW

Sie alle wollen und müssen ihre Botschaften unters Volk bringen. Ohne Soziale Medien ist das heutzutage undenkbar. Wer diese Instrumente ignoriert, wird überhört, übersehen, übergangen. Tweets und Posts sind schon lange der schnellste Weg, seine Meinungen ungefragt hinauszuposaunen. Dabei blieben die Akteure ohne Multiplikatoren weitgehend unter sich. Aber über den Umweg klassischer Medien-Redaktionen, allen voran TV-Talkshows, erreichen sie ein Millionenpublikum.

Kluge Worte des Bundeskanzlers zur Impfpflicht-Debatte

Im nie endenden Wettlauf um Auflagen, Einschaltquoten und Klickzahlen gehören reißerische Überschriften und Zuspitzungen zum Handwerkszeug. Ein Meinungsstreit über Für und Wider einer allgemeinen Impfpflicht mutiert so flugs zum Bild einer angeblich gespaltenen Gesellschaft. Auch dazu hat Olaf Scholz Kluges in Erinnerung gerufen: "Klar ist, dass man das kontrovers diskutieren kann. Das ist auch nicht problematisch. Denn das gehört zur Demokratie dazu."

Zum Abschluss noch der Blick auf einen preisgekrönten Essay der Forscherin Paula Köhler von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik: Da heißt es unter der Überschrift "Wut und Weltbild", Deutschland erlebe derzeit weniger eine gesamtgesellschaftliche Polarisierung, sondern eine immer personalisiertere Auseinandersetzung. Dabei werde "ein kleiner Teil der Bevölkerung (politische Eliten und Meinungsmacher) von einem ebenfalls nicht repräsentativen Teil der Bevölkerung (wütende Online-Trolle) mit Hass und Hetze überzogen". Das wiederum wirke sich auf die breite Debattenkultur aus. Leider hat sie damit recht.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland