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Die EU verrät ihre Werte an der Grenze

DW-Kommentarbild Marina Strauß App PROVISORISCH
Marina Strauß
19. Januar 2021

Brüssel kritisiert die Lage der Migranten und Flüchtlinge in Bosnien als inakzeptabel. Das ist heuchlerisch, vor allem, weil auch innerhalb der EU die Zustände teils katastrophal sind, meint Marina Strauß.

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Fünf junger Männer aus Pakistan und Bangladesch in warmen Winterjacken und Mützen hocken um einen dampfenden großen Topf über einem Holzfeuer in einem Zelt im Lager Bihac in Bosnien / (AP Photo/Kemal Softic)
Flüchtlinge aus Pakistan und Bangladesch in einem provisorischen Zelt im abgebrannten Lager Lipa in BosnienBild: Kemal Softic/AP Photo/picture alliance

Es klingt nicht nur wie eine Drohung, es ist auch als solche gemeint: Der Umgang mit Migranten und Flüchtlingen in Bosnien und Herzegowina könne negative Folgen für das Bestreben des Landes haben, eines Tages Mitglied in der Europäischen Union zu werden, sagte ein Sprecher der EU-Kommission vor wenigen Tagen.

Er spielte damit auf Bilder an, die seit kurz vor Weihnachten auch über die Bildschirme von Menschen in der EU flimmern: brennende Zelte, Männer, die in Plastikschlappen und in Wolldecken eingewickelt im Schnee stehen, selbstgebaute Camps im Wald. Als das Flüchtlingscamp Lipa in Bosnien - direkt an der kroatischen Grenze - erst geräumt wurde, dann abbrannte, rückte wieder ins Licht, was dort seit Jahren brodelt.

Bosnien-Herzegowina Flüchtlingscamp
Camp Lipa in Bosnien-Herzegowina nach dem BrandBild: Marina Strauß/DW

Seitdem EU-Staaten wie Ungarn Grenzzäune hochgezogen haben, suchen sich Migranten und Flüchtlinge neue Routen. Viele versuchen, über Bosnien in die Europäische Union zu kommen.

Keine gemeinsame Asylpolitik der EU

Die EU hat Recht, wenn sie den Balkanstaat für sein dysfunktionales politisches System kritisiert. Selbst lokale Behörden im Una-Sana Kanton, in dem Camp Lipa liegt, tun das, sagen, die Regierung in Sarajevo lasse sie alleine mit der Migrationsfrage.

Wenn EU-Verantwortliche gefragt werden, inwiefern die Union nun Verantwortung übernehmen müsse, klingen die Antworten oft so wie die des besagten Sprechers: Es sei nicht die EU, die Bosnien Migranten aufdränge. Und: Man helfe ja, stelle Geld bereit.

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DW-Europakorrespondentin Marina Strauß

Laut EU-Kommission sind seit 2018 rund 88 Millionen Euro nach Bosnien und Herzegowina geflossen, um die Lage vor Ort zu managen. Und dennoch ist es heuchlerisch, wenn EU-Kommission und -Mitgliedsstaaten mit dem Finger auf Bosnien zeigen. Sie selbst schaffen es seit Jahren nicht, sich auf eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik zu einigen.

An einigen Orten innerhalb der EU sieht es nicht besser aus in Camp Lipa. Zum Beispiel auf den griechischen Inseln, etwa in Kara Tepe, dem neuen Camp auf Lesbos.

Geduldete Gewalt an den Außengrenzen

Der einzige Aspekt in der Migrationspolitik, über den sich die EU-Staaten einig sind: Die Außengrenzen der Union müssen geschützt werden. Möglichst wenige sollten reinkommen dürfen.

Um dieses Ziel so effektiv wie möglich zu erreichen, greifen einige EU-Mitglieder auf illegale Pushbacks zurück, gehen brutal und entwürdigend vor. Zum Beispiel Griechenland, wie auch eine DW-Recherche zeigte. Und Kroatien. Dass vielen Migranten mehrere Male von der kroatischen Grenzpolizei gewaltsam zurückgedrängt wurden, teils auch bestohlen oder ihrer Kleidung entledigt, bestätigen nicht nur sie selbst gegenüber der DW, sondern ebenso lokale Behörden und NGOs.

Zur Wahrheit gehört auch: Viele der jungen Männer in Camp Lipa haben wahrscheinlich kein Recht auf Asyl in der EU. Wer mit ihnen spricht, erfährt: Sie kommen, weil sie der wirtschaftlichen Hoffnungslosigkeit in ihrer Heimat entfliehen wollen, weil sie sich in der EU mehr Chancen, ein besseres Leben, erhoffen.

Rückkehr ist keine Option

Manche haben schon versucht, in der EU Asyl zu beantragen, wurden abgelehnt und wollen es dennoch noch einmal probieren. Weil eine Rückkehr, zumal als Gescheiterter, oft keine Option ist.

Bosnien und Herzegowina Flüchtlingscamp Lipa
Flüchtlinge und Migranten waschen sich und ihre Kleidung oft im Fluss - bei eisigen TemperaturenBild: Dado Ruvic/REUTERS

Trotzdem ist es heuchlerisch, wenn die die EU sich als (einziger) Wahrer der Menschenrechte aufspielt und gleichzeitig duldet, dass Menschen an ihrer Außengrenze mit Gewalt davon abgehalten werden, Asyl in einem Land der Europäischen Union zu beantragen - ein Recht, das jedem, der an der Grenze ankommt, zusteht.

Genauso heuchlerisch ist es, Bosnien die gesamte Verantwortung zuzuschieben und nur immer wieder auf den dicken EU-Brieftasche zu verweisen, die die Probleme vor Ort schon lösen werde. Die Menschen in Lipa wollen nicht in Bosnien bleiben, sie wollen in die EU. Und viele werden sich auch zum x-ten Mal auf den Weg dorthin machen, egal, was ihnen droht - sei es Gewalt auf der Route oder die Aussicht, wieder abgeschoben zu werden. 

Die EU schuldet ihnen zumindest eines: eine EU-Asyl- und Migrationspolitik, die diesen Namen verdient. Und nicht darauf angewiesen ist, junge Männer an der Grenze zusammenzuschlagen, um andere in ihren Heimatländern davon abzuschrecken, sich ebenfalls auf den Weg zu machen.