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Politik

Dieses Urteil reicht nicht

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Ines Pohl
26. Juni 2021

Noch nie wurde in den USA ein weißer Polizist für den Mord an einem Schwarzen so hart bestraft wie Derek Chauvin. Es ist aber viel zu früh, um von einem strukturellen Wandel im Land zu sprechen, kommentiert Ines Pohl.

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Proteste zum ersten Jahrestag von George Floyd
Ein Mord, die Proteste - und nun das Strafmaß im Verfahren um den Tod von George FloydBild: Markus Schreiber/AP/picture alliance

Kein Strafmaß in einem Mord-Prozess, egal wie hoch es ausfällt, kann wirklich Gerechtigkeit herstellen. Gerecht wäre es, wenn weiße Polizisten aufhören würden, schwarze Menschen umzubringen. Gerecht wäre es, wenn der strukturelle Rassismus in den USA endlich radikal bekämpft würde. Gerecht wäre es, wenn ein schwarzes oder braunes Kind am Tag seiner Geburt dieselben Chancen hätte wie ein weißes Kind. 

Das Strafmaß in einem Mord-Prozess kann angemessen sein. Sind das die 22,5 Jahre, zu denen Derek Chauvin verurteilt wurde, der Mörder von George Floyd? Auch vor dem Hintergrund, dass er aufgrund der Gesetzeslage im Bundesstaat Minnesota wahrscheinlich davon 15 Jahre wirklich hinter Gittern verbringen wird? 

Enttäuschung verständlich 

Der Richter hätte Chauvin zu einer 30-jährigen Gefängnisstrafe verurteilen können. Es ist verständlich, dass viele enttäuscht sind, dass dieses Höchstmaß nicht ausgeschöpft wurde. Und besonders der Familie des Ermordeten steht alle Kritik daran zu. 

Dieses Urteil stellt trotzdem einen historischen Schritt dar. Es ist die höchste Gefängnisstrafe in der Geschichte der USA, zu der jemals ein weißer Polizist für den Mord an einem Schwarzen verurteilt wurde. Endlich ist der Schutzwall aufgebrochen, der die teilweise zutiefst rassistischen Strukturen innerhalb der Polizei seit Jahrhunderten bewahrt hat.  

Die Kraft der Straße 

Diese Gerichtsentscheidung macht George Floyd nicht wieder lebendig. Aber sie zeigt, wie viel Kraft von der Straße ausgehen kann. Wie bedeutend es ist, dass Menschen gemeinsam für eine gerechtere Welt kämpfen. Denn es ist kein Zufall, dass ein Mörder in Polizeiuniform bei genau diesem Fall endlich auch so benannt und verurteil wurde. Es waren die Millionen im ganzen Land, die sich unter dem Ruf "Black Lives Matter" solidarisiert haben mit dem Mann, der neun Minuten und 29 Sekunden auf den Boden gepresst wurde von einem Knie in Polizeiuniform – und am Ende starb, weil er nicht mehr genügend Luft bekam, um weiterzuleben.

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Ines Pohl, DW-Korrespondentin in Washington

Noch nie hat sich in diesem Land eine so breite Öffentlichkeit eindeutig für die Rechte des Opfers stark gemacht. Das ist eine gute Nachricht. Die aber nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass das Urteil gegen Derek Chauvin zwar ein wichtiger Schritt ist, aber keinerlei Garantie dafür, dass die Vereinigten Staaten endlich einen Weg heraus finden aus der rassistischen Spirale von Gewalt und Machtmissbrauch. 

Eindringliches Videomaterial

Nicht von jedem Mord gibt es so eindringliches Videomaterial wie in diesem Fall. Der Prozess, der immer wieder Gefahr lief, zu einem Schauprozess zu werden, fand auch deshalb so große Beachtung, weil eben jenes Video-Material immer und immer wieder gezeigt wurde. Die Lust am Grauen garantierte Aufmerksamkeit – und Sendezeit bei den großen TV-Stationen. 

Es werden die Urteile in den weniger spektakulären Mord-Fällen sein, die nun zeigen, ob wirklich ein Umdenken einsetzt in diesem Land, das den frühen wirtschaftlichen Erfolg der Ausbeutung von versklavten Menschen verdankt. Und das sich bis heute an den Nachkommen versündigt. 

Bundesweite Polizeireform 

Eine angemessene Rechtsprechung ist wichtig. Aber ebenso wichtig ist es, dass die Politik endlich eine bundesweite Polizeireform anschiebt, die diesen Namen auch verdient. Polizisten in diesem Land müssen dringend besser ausgebildet werden, gerade weil sie in den USA ja ständig damit rechnen müssen, dass das Gegenüber eine  Waffe bei sich hat. Es müssen Wege gefunden werden, dass nicht Polizisten die ersten sind, die auf psychisch Kranke treffen, mit denen entsprechend ausgebildete Fachkräfte viel besser umgehen können. 

Im Jahr 2021 ist es endlich möglich, dass ein weißer Polizist für einen Mord, den er in Uniform an einem Schwarzen begangen hat, mindestens 15 Jahre ins Gefängnis muss. Das ist die gute Nachricht an diesem Tag, an dem wir in Gedanken bei all den vielen Familien sein sollten, die durch den Machtmissbrauch von Polizisten Angehörige verloren haben. Wissend, dass man die Geschichte nicht mehr gerechter machen kann. Wohl aber die Zukunft.

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Ines Pohl Büroleiterin DW Studio Washington@inespohl