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Politik

Ein Jahr Halle: Wir müssen endlich zuhören

DW Mitarbeiterin Lisa Hänel
Lisa Hänel
9. Oktober 2020

Ein Jahr nach dem antisemitischen Anschlag in Halle ist es Zeit für mehr als Mahnungen zu Solidarität. Wir dürfen jüdisches Leben in Deutschland nicht erst wahrnehmen, wenn es bedroht wird, meint Lisa Hänel.

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Halle: Gedenken an den Anschlag auf die Synagoge, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Bild: Jan Woitas/dpa/picture alliance

Es müssen viele Lehren aus dem antisemitischen Anschlag in Halle gezogen werden: Wir müssen Synagogen umfassend schützen, wir müssen rechtsextreme Netzwerke entschiedener bekämpfen und wir dürfen die Mär vom Einzeltäter nicht wiederholen.

Essenziell aber ist vor allem diese Erkenntnis: Antisemitismus ist kein Problem der Juden und Jüdinnen in diesem Land, sondern eines von uns allen. Und zwar nicht, weil Halle (im Politikerjargon) ein "Angriff auf uns alle" war, sondern weil jüdisches Leben unverrückbarer Teil deutschen Alltags ist. Wir Nicht-Jüdinnen und -Juden aber nehmen es erst wahr, wenn es bedroht ist.

Antisemitismus als gesellschaftliches Virus

Die Gesellschaft ist ein Immunsystem und Antisemitismus ist das Virus darin - so hat es die US-amerikanische Autorin Bari Weiss beschrieben. Die Metapher ist vor Corona entstanden, aber sie wirkt seit der Pandemie umso eindringlicher. Das Virus Antisemitismus verschwindet nie ganz, aber eine gesunde Gesellschaft, ergo ein gesundes Immunsystem hält es in Schach. Schwächelt das Immunsystem, bahnt sich das Virus seinen Weg. Dann gibt es beispielsweise Anti-Corona-Demonstranten, die sich Judensterne an die Brust heften. Es gibt Demonstranten, die einerseits für die Aufnahme von Migranten aus Moria auf die Straße gehen, gleichzeitig aber die antisemitische Parole "Palestine will be free - from the river to the sea" brüllen.

DW-Redakteurin Lisa Hänel
DW-Redakteurin Lisa HänelBild: DW/P.Böll

Wenn Juden angegriffen werden, weil sie Juden sind, werden nur sie angegriffen. Kein Vertreter der sogenannten Mehrheitsgesellschaft erleidet dabei physische Verletzungen. Wer aber Antisemitismus als Zeichen einer kranken Gesellschaft versteht, ist (wenn auch nicht körperlich) automatisch selbst gemeint und macht den Kampf gegen Antisemitismus zu seiner Sache.

Das gelingt aber nur, wenn wir Juden in Deutschland nicht als homogene Gruppe und jüdisches Leben in Deutschland nicht als Klischee wahrnehmen, sondern in seiner ganzen Vielfalt. Nur so können wir Antisemitismus in all seinen Facetten verstehen und zu ahnen beginnen, was er für die Betroffenen bedeutet. Ein Jude mit sowjetischen Wurzeln, dessen Familie mehrfach immigrieren musste, wird anders damit umgehen als ein US-amerikanischer Jude in Deutschland, dessen Familie den Holocaust erlebt hat. Wer als Jude von deutschen Rechtsextremisten attackiert worden ist, reagiert anders als ein Fußballer im Sportverband Makkabi, der mit dem Antisemitismus muslimischer Spieler konfrontiert ist. Wenn wir das begreifen, reagieren wir vielleicht weniger hilflos und schockstarr auf antisemitische Beleidigungen und Anschläge.

Hören wir als Mehrheitsgesellschaft jüdischen Menschen zu, was sie zu sagen haben. Halten wir das Virus in Schach. Und damit ist nicht Corona gemeint.