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Glaube

Ein merkwürdiger Text in merkwürdigen Zeiten

4. Oktober 2020

Die dritte Enzyklika von Papst Franziskus "Fratelli Tutti" wirkt so was von aus der Zeit gefallen. Und doch ist sie auf ihre Art so sehr in diese Zeit hineingeschrieben, meint Christoph Strack.

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Italien | Papst Franziskus in Assisi
Bild: Vatican Media/Reuters

In der neuen Enzyklika findet sich nichts zum Thema Missbrauch und Klerikalismus, eigentlich kein Wort zu Abtreibung und Schutz des ungeborenen Lebens. Nichts zur schwierigen Lage der Kirche in China. Nichts zu irgendwelchen synodalen Wegen und zu den Erschütterungen des römischen Systems in den vergangenen Jahren, zu seinen Finanzskandalen und Bigotterien. Nichts zur Ökumene der Kirchen, zum Drängen und Harren beim Streit um Eucharistie und Abendmahl. Dass an manchen Stellen Randthemen wie beispielsweise das Nein zur Mafia hineindrängen, hat mit der merkwürdigen, längeren Redaktionsgeschichte solcher Dokumente zu tun und steigert die Qualität des Textes nicht.

Franziskus hat also eine Enzyklika in der Corona-Tragödie geschrieben. Es ist ein Text gegen die Praxis, "andere zu beseitigen oder zu übergehen" oder "wegzuwerfen", der Franziskus einen "neuen Traum der Geschwisterlichkeit und der sozialen Freundschaft" entgegensetzt. Die Abfassung des Textes hatte schon begonnen, als die Pandemie ausbrach.

Eine Provokation für US-Amerikaner

Und so verschärft der Gedanke an die Herausforderung durch Corona die Themen, die Franziskus erörtert und anprangert: Profitgier, die Dominanz wirtschaftlicher Mächte, die Absage an das Gemeinwohl, die Abkehr von der Sozialverpflichtung des Eigentums, die Abschottung gegenüber Migranten, neue Formen kultureller Kolonisation, den "zerstörerischen Hass im Netz". Und Franziskus betont das strikte Nein der Kirche zu Atomwaffen, zu Kriegen, zur Todesstrafe.

Christoph Strack Christoph
DW-Redakteur Christoph StrackBild: DW/B. Geilert

Auch wenn der Präsidentschaftswahlkampf in den USA an keiner Stelle explizit genannt ist: Manches in dem Dokument, was europäischen Leserinnen und Lesern selbstverständlich scheint, ist für US-Amerikaner eine Provokation - in einem System, in dem Reichtum persönlicher Gewinn ohne Sozialverpflichtung ist, in dem die Trump-Administration den Vollzug von Todesstrafen im Wahlkampf zelebrierte und gemeinhin das Recht des Stärkeren feiert.

"In der gegenwärtigen Welt nimmt das Zugehörigkeitsgefühl zu der einen Menschheit ab, während der Traum, gemeinsam Gerechtigkeit und Frieden aufzubauen, wie eine Utopie anderer Zeiten erscheint", schreibt Franziskus. Dagegen stellt er "die unveräußerliche Würde jedes Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion" als "höchstes Gesetz der geschwisterlichen Liebe". Gerade der Anstoß, die "soziale Funktion des Eigentums neu zu denken", ist in europäischen Sozialsystemen mehr oder weniger vertraut, aber für US-Amerikaner gewöhnungsbedürftig.

Der Revolutionär

Aber die neue Enzyklika hat noch eine ganz andere Wucht. Und dabei sagt das Schreiben viel über den Papst persönlich aus. Denn "Fratelli Tutti" zeigt in neuer Deutlichkeit, wie sehr sich das Kirchenoberhaupt in der Spur des Heiligen Franziskus versteht, also von Franz von Assisi, des für seine Zeit vor 800 Jahren verrückten Kirchenrevolutionärs. Als 2013 Jorge Mario Bergoglio, der Mann aus Argentinien, als erster Papst überhaupt den Namen Franziskus wählte, nahm man das zur Kenntnis und fand es idyllisch oder beeindruckend.

Anfang 2019 reiste Franziskus als erster Papst überhaupt auf die arabische Halbinsel. Er zog dorthin, um eine der höchsten geistlichen Autoritäten des Islam, den sunnitischen Großimam Ahmad Al-Tayyeb, zu treffen und mit ihm ein gemeinsames Dokument zu unterzeichnen. Es war eine Sensation. Just 800 Jahre zuvor, im Jahr 1219, trat Franz von Assisi in all seiner Armut am Nil vor Sultan Malik-al-Kamil und verstand sich dabei sehr bewusst während eines laufenden Kreuzzugs als Botschafter des Friedens.

Und nun, Anfang Oktober 2020, fuhr Franziskus, in Corona-Zeiten eigentlich abgeschottet im Vatikan, am Tag vor der Veröffentlichung von "Fratelli Tutti" nach Assisi, um die Enzyklika dort, am 794. Todestag des Heiligen, zu unterzeichnen. Viele Päpste, wohl ein Dutzend, pilgerten schon nach Assisi. Franziskus war der erste, der dort eine Enzyklika unterzeichnete.

Ein letzter Vergleich: Franz von Assisi legte sich, als es ans Sterben ging, nackt auf den Boden einer Kapelle, nackt vor seinem Gott. Hatte es nicht etwas von Nacktheit, als Papst Franziskus Ende März 2020, in der Dunkelheit der Welt um Corona, ganz allein auf dem Petersplatz zu Gott betete und flehte und der Welt den Segen spendete?

Auf der Spur des historischen Franziskus

All diese Spuren der vergangenen Jahre kulminieren in "Fratelli Tutti". An fünf über das Dokument verstreuten Stellen, vom Beginn bis zum Ende, nennt der Papst den Großimam, nennt er Ahmad Al-Tayyeb. Das fällt sehr auf, weil er sonst kaum jemanden explizit erwähnt, und sonst niemanden mehr als einmal. Und die neue Enzyklika endet mit jenem Aufruf, in dem auch das mit Al-Tayyeb unterzeichnete Dokument von Abu Dhabi gipfelte, dem "Aufruf für Frieden, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit".

Die Enzyklika als Appell zur Identifikation mit den Geringsten - in Zeiten von Corona, von Populismus und Nationalismus, von himmelschreiender Armut, von himmelschreiendem Reichtum. Jorge Mario Bergoglio steht dabei stets in der Tradition der Päpste, aber er ist bei all dem so sehr in der Spur des historischen Franziskus. Und diese Spur führt hinaus aus der Enge kirchenamtlicher Vorgaben. "Wir Gläubige verschiedener Religionen", schreibt er an einer Stelle. Der Papst appelliert an "alle Menschen guten Willens".

In der Erschütterung von Corona, in der Erschütterung durch die allseits bekannten Populisten an den Hebeln der Macht mahnt Franziskus überdeutlich: Der Weg der Religion muss ein Weg der Religionen sein. Für manche in Europa, für viele in den USA mag das eine Provokation sein. Es ist eine merk-würdige Enzyklika.