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Politik

Es lebe die Demokratie!

19. Januar 2021

Populisten behaupten gerne, die etablierte Politik ignoriere die wahren Interessen der Bürger. In Deutschland versucht man mit neuen Dialogformen dieser Legende zu widersprechen. Zeit wird es, meint Marcel Fürstenau.

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Die Teilnehmer des ersten Bürgerrates inszenieren sich als lebendiges Kunstwerk auf der Wiese vor dem Reichstag. Unterhalb der von Menschen gebildeten Rosette ist im Rasen der Schriftzug "Democracy for Future" zu sehen. Bildquelle: Mehr Demokratie e.V.
Die Teilnehmer des ersten Bürgerrates inszenieren sich als lebendiges Kunstwerk auf der Wiese vor dem ReichstagBild: Mehr Demokratie e.V.

Ja, es gibt viele Anlässe und Gründe, sich um die demokratische Kultur Sorgen zu machen. In Deutschland, in Europa, in der Welt. Die Bilder von der Erstürmung des Kapitols in Washington durch einen enthemmten Mob haben sich eingebrannt ins globale Gedächtnis. Und schon bestehende Zweifel verstärkt, ob die Demokratie in den USA noch wetterfest ist. Oder beim nächsten Sturm zusammenbricht?

Eine Frage, die keineswegs übertrieben zu sein scheint. Schließlich hat fast die Hälfte der Amerikaner bei der Präsidentschaftswahl im November wieder für Donald Trump gestimmt. Trotz oder wegen einer vierjährigen Amtszeit, die geprägt war von Lügen, Hass und Rassismus. Gar so schlimm treiben es Boris Johnson in Großbritannien und Viktor Orbán in Ungarn zwar nicht. Aber leuchtende Vorbilder für eine auf Fairness und Respekt basierende Politik sind auch diese Populisten nicht.

Ein Typ wie Trump hätte in Deutschland keine Chance

Viele andere wären zu nennen, darunter Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro. Ganz zu schweigen von einem Wladimir Putin in Russland oder Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei. Kurzum: Die Demokratie steht rund um den Globus stark unter Druck. Angesichts der Zustände in anderen Ländern ist Deutschland geradezu ein Paradies, eine Insel der Glückseligen. Ein verruchter Regierungschef vom Format Donald Trumps ist auch nach der Bundestagswahl im September nicht einmal theoretisch vorstellbar.

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
DW-Redakteur Marcel FürstenauBild: DW

Trotzdem muss sich Deutschland überlegen, wie die auch hier auseinander driftende Gesellschaft besser zusammengehalten werden kann. Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015 geht ein tiefer Riss durchs Land. Politisch ablesbar am Wandel und Erstarken der rechtspopulistischen AfD, die es überhaupt erst seit 2013 gibt.

Die Radikalisierung der AfD hat viele Ursachen

Dass sich die AfD im Eiltempo von einer europaskeptischen in eine populistische, zunehmend radikale und teilweise auch extreme Partei verwandelte, dafür ist sie zuallererst selbst verantwortlich. Allerdings haben es die anderen politischen Kräfte und auch Teile der Medien versäumt, mit der neuen Konkurrenz ins Gespräch zu kommen, als das auf einem anständigen Niveau noch möglich gewesen wäre.

Wobei die AfD lediglich das sichtbarste Symptom in einer Gesellschaft ist, deren Kommunikation in immer mehr Parallelwelten stattfindet: Twitter-Blasen und Youtube-Kanäle, in denen man unter sich bleibt, anstatt sich im offenen Meinungsaustausch an den Argumenten der Gegenseite zu reiben. Da bleibt kein Platz für andere Gedanken und die Bereitschaft zum Kompromiss. Auf längere Sicht schadet das jeder Demokratie.

Bürgerräte können den Blick weiten

Deshalb ist jeder Versuch zu begrüßen, die Menschen wieder mehr und besser ins Gespräch zu bringen. Und dem Eindruck auch vieler Wohlwollender, im politischen Tagesgeschäft ignoriert zu werden, entgegenzutreten. Ein schönes Beispiel dafür ist der sogenannte Bürgerrat, in dem 160 per Los ausgewählte Personen (zehn pro Bundesland) gemeinsam Ideen entwickeln. Bei der Premiere dieses Formats unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ging es 2019 um nichts weniger als Demokratie.

Im gerade gestarteten zweiten Durchgang ist Deutschlands Rolle in der Welt das Thema. Ein weites Feld, gewiss. Und die vom Bürgerrat zu erarbeitenden Empfehlungen an die Politik werden unverbindlich bleiben. Schließlich ist dieses Gremium kein Ersatzparlament. Deshalb kann man es als folgenlosen Zeitvertreib für gesellschaftspolitisch interessierte Menschen abtun. Oder aber als selbstkritisches Eingeständnis von Parlament und Regierung auffassen: "Wir haben verstanden!"    

Weniger Arbeit für den Verfassungsschutz wäre schön  

Dass die AfD deutschlandweit in aktuellen Umfragen zehn Prozent Zustimmung bekommt, sollte weder verängstigen noch beruhigen. Vielmehr könnte es Ansporn sein, diese zehn Prozent wieder für den demokratischen Diskurs zu gewinnen. Dann hätte die AfD sogar die Chance, im positiven Sinne ernst genommen zu werden. Und der Verfassungsschutz, der sie verstärkt in den Blick nimmt, hätte ein Problem weniger. Das setzt aber Dialogbereitschaft bei allen voraus.

Basis dieses Dialogs ist und bleibt die deutsche Verfassung. Tragende Säulen des Grundgesetzes sind Artikel 1 - "Die  Würde des Menschen ist unantastbar" - und Artikel 5, in dem die Meinungsfreiheit garantiert wird. Beide Artikel sind elementar für eine stabile Demokratie. Die überwältigende Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen befürwortet die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Damit das so bleibt und die Zahl der Demokratie-Verächter kleiner wird, bedarf es viel guten Willens und guter Ideen - wie dem Bürgerrat. Gerne mehr davon!