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GesellschaftEuropa

Franziskus rechnet mit Europa ab

5. Dezember 2021

Es ist eine päpstliche Wutrede. Nicht wegen der Lautstärke, sondern wegen der Wortwahl. Vor Flüchtlingen auf Lesbos prangert Papst Franziskus erneut die Abschottung Europas an. Zu Recht, meint Christoph Strack.

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Griechenland | Besuch Papst Franziskus
Papst Franziskus bei seinem Besuch in einem Flüchtlingslager auf Lesbos am zweiten AdventssonntagBild: Andreas Solaro/AFP/Getty Images

Papst Franziskus wählt deutliche Worte. Das Mittelmeer, diese "Wiege zahlreicher Zivilisationen", sei zum "kalten Friedhof ohne Grabsteine" geworden. Er beklagt "Taubheit" für die Nöte des Nächsten, "todbringende Gleichgültigkeit" und "zynisches Desinteresse".

In der nun bald neunjährigen Amtszeit von Papst Franziskus gab es so etwas noch nicht: Zum zweiten Mal führt eine seiner Auslandsreisen auf die griechische Insel Lesbos. Zum zweiten Mal hält er dort eine Rede - an Flüchtlinge und an die Welt.

Mitte April 2016 sprach der Papst nur kurz. "Wir sind gekommen, um die Aufmerksamkeit der Welt auf diese schwere humanitäre Krise zu lenken und ihre Lösung zu erflehen", sagte er damals. Er erläuterte, warum er mit dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel sowie dem höchsten Erzbischof der Orthodoxie das Eiland aufsuchte. Ein Flehen, das unerhört blieb.

"Es ist ein Weltproblem"

Diesmal wirkt alles verzweifelter, wütender als beim ersten Mal. Das bald 85-jährige katholische Kirchenoberhaupt beklagt die europäische Untätigkeit bei der Hilfe für Flüchtlinge und Migranten.

Deutsche Welle Strack Christoph Portrait
DW-Redakteur Christoph StrackBild: DW/B. Geilert

"Wir müssen mit Bitternis zugeben, dass dieses Land wie andere auch, noch unter Druck steht und dass es in Europa immer noch Leute gibt, die so tun, als ginge sie dieses Problem nichts an."

Es sei ein "Weltproblem", sagt Franziskus. Und geht dann zunächst auf das Thema Impfen im Kampf gegen Corona ein. "Wir haben verstanden, dass wir uns den großen Fragen gemeinsam stellen müssen, denn in der heutigen Welt sind bruchstückhafte Lösungen unzureichend."

"Schrecklicher Stillstand"

Beim weltweiten Kampf gegen die Virusinfektion gelinge die Zusammenarbeit wenigstens in Teilen - aber beim Thema Migration sieht der Papst "schrecklichen Stillstand". Nach jeder Katastrophe im Mittelmeer mit vielen Dutzend, gar hunderten Toten ist die Betroffenheit groß. Aber das war's dann auch.

Alle paar Monate kommen Berichte über mutmaßliche illegale Abschiebungen von Flüchtlingen in die Türkei. Vor wenigen Tagen berichtete die "New York Times" davon, dass griechische Grenzschützer einen Dolmetscher der EU-Grenzschutzbehörde Frontex für einen Asylsuchenden hielten, ihn geschlagen und illegal in die Türkei abgeschoben haben sollen.

Noch immer gibt es keine gemeinsame europäische Regelungen zum Asyl und zur Aufnahme von Flüchtlingen. Alle Mitgliedsstaaten scheinen nach dem Motto "Augen zu und durch" zu verfahren. In Deutschland folgt bei Debatten zu diesem Thema rasch der Satz "Wir können doch nicht alle aufnehmen".

Humane Korridore

Doch darum geht es nicht. Es geht darum, Menschen aus der Not zu holen, vor allem Familien mit Kindern. Sage niemand, das ginge nicht. Das sagt sich so schnell. Und dann kommt gerne der Vorwurf, der Papst tue doch nichts und habe so riesige Paläste.

Zur Erinnerung: Seit fünf Jahren holt die italienische Laienbewegung "Sant' Egidio" gemeinsam mit den evangelischen Kirchen des Landes und den Waldensern Flüchtlinge im Rahmen sogenannter "humanitärer Korridore" aus Lagern im Libanon, in Libyen und im Irak nach Italien.

Ohne staatliche Gelder, komplett spendenfinanziert. Vor Ort werden sie sorgsam ausgewählt, ihre Religion spielt dabei keine Rolle. Häufig sind es Familien mit Kindern oder Menschen, die besondere medizinische Unterstützung brauchen. Schon am jeweiligen Flughafen werden sie von Helferinnen und Helfern erwartet.

Europa, müde und kraftlos?

In den Gemeinden sind Wohnungen vorbereitet, ehrenamtliche Begleitung von Anfang an. In Rom sind es häufig Wohnungen der Kirche, auch des Vatikan. Und gelegentlich lädt Franziskus solche Geflüchtete in den Vatikan, ohne große mediale Begleitung. Er will ihnen zuhören, ihren Weg  begleiten.

Mittlerweile führen "humanitäre Korridore" auch nach Frankreich, Belgien und Andorra. Und immer stellen die Aufnahmeländer humanitäre Visa aus. Man mag oft über italienischen Katholizismus lästern - dieses Beispiel zeigt, dass man etwas tun kann.

Aber in vielen Ländern stellt man sich taub. Für Franziskus, den Papst aus Argentinien, ist dieses Europa längst ein müder und kraftloser Kontinent, der seine überkommene Offenheit und seine Wurzeln verloren hat.

Er will das nicht akzeptieren. Deshalb die Wut. Schon in Athen, einen Tag zuvor, hatte er mit Europa und manchen Politikern abgerechnet. Gegen Demokratiemüdigkeit, so der Papst, helfe nur eine gute Politik, die sich am Gemeinwohl ausrichte und sich den Schwächsten verpflichtet fühle. Ob die scharfe Kritik des Papstes wohl irgendjemanden in Brüssel und Europa noch berührt? Man kann daran zweifeln.