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PolitikEuropa

Putins Pistole am Kopf der Ukraine

Roman Goncharenko (DW)
Roman Goncharenko
4. Dezember 2021

Einen großen Krieg Russlands gegen die Ukraine wird es (noch) nicht geben. Der Westen macht sich zu viele Sorgen und spielt damit dem Kreml in die Hände. Eine andere Reaktion ist gefragt, meint Roman Goncharenko.

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Präsident Putin bei Schießübung mit Hörschutz über den Ohren
Präsident Wladimir Putin - hier bei Schießübungen 2006Bild: DMITRY ASTAKHOV/PRESIDENTIAL PRESS/AFP/Getty Images

Seit russische Truppen in großem Stil an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren, fragt sich die westliche Welt, was Wladimir Putin will. Die Antwort gab in dieser Woche der russische Präsident persönlich. Bei einem Termin mit ausländischen Botschaftern am Mittwoch präzisierte der Kremlchef seine jüngsten Aussagen über "langfristige Sicherheitsgarantien" seitens des Westens.

Damit ist die Sache klar: Putin möchte, dass die NATO schriftlich auf eine künftige Erweiterung nach Osten verzichtet. Das würde bedeuten, dass sich die Ukraine und Georgien niemals unter ihren Schutzschirm begeben können, obwohl sie beim NATO-Gipfel in Bukarest 2008 eine grundsätzliche Zusage bekommen haben. Putin hat damit auf der Karte Europas eine dicke rote Linie gezeichnet.   

Moskau sorgt sich wegen der ukrainischen Marine

Die vorhersehbare Antwort aus Riga, wo sich die NATO-Außenminister an diesem Tag mit ihrem ukrainischen Kollegen trafen, kam prompt: Der Generalsekretär der Allianz, Jens Stoltenberg, betonte erneut, Russland habe kein Vetorecht.

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DW-Redakteur Roman Goncharenko

Putin verlangt aber nicht nur, dass die NATO auf eine weitere Erweiterung nach Osten verzichtet. Auch bilaterale militärische Hilfen, welche die Verteidigungskraft der Ukraine steigern, sind ihm ein Dorn im Auge. Dabei geht es dem russischen Präsidenten offenbar nicht allein um das US-Panzerabwehrsystem Javelin, das die Ukraine bereits seit Jahren erhält, sondern um mögliche künftige Lieferungen. Kiew bittet beispielsweise bisher erfolglos bei den USA auch um Patriot-Flugabwehrraketen.

Die größte Sorge des Kremls ist derzeit jedoch die wachsende Stärke der ukrainischen Marine und ihre Übungen im Schwarzen Meer. So hat Kiew den gemeinsamen Bau von Kriegsschiffen und Booten mit der Türkei, Frankreich und Großbritannien vereinbart. Genauso wichtig ist der Deal über die Lieferung von britischen Raketen, mit denen sie bewaffnet werden könnten. Schließlich werden die türkischen Bayraktar-Angriffsdrohen, deren jüngster Einsatz gegen Separatisten im Donbass Empörung in Moskau ausgelöst hatte, auch von der ukrainischen Marine benutzt. Das alles, sowie Kiews Pläne, neue Marinestützpunkte zu errichten, führt zu immer mehr Unwohlsein in Moskau. Dabei wird die Ukraine nie in der Lage sein, kräftemäßig gegen die russische Armee oder Flotte zu bestehen.

Sprich mit mir, Joe!  

Darüber und über vieles mehr will Putin bald mit US-Präsident Joe Biden sprechen - und zwar auf Augenhöhe. Russische Politiker verkünden fast täglich, dass es noch bis Jahresende einen "Kontakt" auf höchster Ebene geben wird, offenbar per Videoschalte oder telefonisch.

Mit dem Truppenaufmarsch an der Grenze zu Ukraine erhöht Putin Druck auf Biden. Im März hat er bereits ähnlich und erfolgreich gehandelt. Damals stimmte Biden einem Gipfeltreffen in Genf zu, das dann im Juni stattfand. Nun möchte Putin seinen Erfolg festigen.

Vor einigen Jahren, damals in einem anderen Kontext, sagte der Kremlherrscher: "Nette Worte sind gut, doch nette Worte und eine Smith & Wesson sind viel effektiver." Das scheint eines seiner Grundprinzipien. Putin gefällt es, mit dem Westen zu sprechen, während er der Ukraine einen Revolver an den Kopf hält.

Putin nicht in die Hände spielen

Was bedeutet das für den befürchteten großen Krieg? In absehbarer Zeit wird es ihn wohl nicht geben. Solange die Gaspipeline Nord Stream 2 nicht in Betrieb genommen ist, scheint er fast ausgeschlossen, denn ein Krieg würde das Ende für dieses Projekt bedeuten. Eine neue Eskalation im Stellungskrieg im Donbass ist dagegen möglich.

Wenn sich Russland doch noch entscheiden sollte, die Ukraine offen militärisch anzugreifen, dann dürfte das zu einem unerwarteten Zeitpunkt geschehen. Wobei das seit 2014 fast unmöglich ist. Doch wenn man mehrmals droht und dann doch nicht zuschlägt, stumpft die Reaktion des Opfers ab. Auch das könnte ein Kalkül Moskaus sein.

Auf jeden Fall sollte der Westen zurückhaltender auf das Tun Moskaus reagieren. Laute Alarmbotschaften spielen dem Kremlchef eher in die Hände. Neulich sagte Putin nicht ohne Genugtuung, dass russische Warnungen vor westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine "gewisse Spannungen" ausgelöst hätten. Und er wünschte sich, dass diese "so lange wie möglich anhalten" mögen. Der Westen sollte ihm diesen Gefallen nicht tun. Die beste Antwort auf die russischen Manöver an der ukrainischen Grenze wäre ein Besuch eines prominenten westlichen Politikers in Kiew. Eine solche Unterstützung fehlt bisher.