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PolitikEuropa

Beschwichtigung ist keine Strategie

Autor und Kolumnist der ukrainischen Redaktion der Deutschen Welle Eugen Theise
Eugen Theise
24. Januar 2022

Kann das freie Europa nur mit Mahnungen und Sanktionen verteidigt werden? Diese Frage muss sich Deutschland stellen angesichts des großen russischen Aufmarschs an den Grenzen zur Ukraine, meint Eugen Theise.

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Demonstranten vor der Botschaft Großbritanniens in Kiew mit großem Transparent, das die Flaggen Großbritanniens und der Ukraine zeigt. In der Mitte groß die Wort "Thank You!"
Demonstranten vor der britischen Botschaft in Kiew danken für Waffenlieferungen an die UkraineBild: imago images/Ukrinform

Das Recht des Stärkeren werde gegen die Stärke des Rechts gestellt - so beschrieb einmal Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel das Vorgehen Russlands gegen die Ukraine. 2014 annektierte Moskau die Halbinsel Krim und zog dann die Strippen im Krieg in der Ostukraine, der tausende Leben forderte. Es ist der Blutzoll, den die Ukraine zahlt, seit sich das Land von Moskau lossagte.

Deutschland unterstützt die Ukraine auf ihrem Weg nach Europa wie kein anderes Land des Kontinents. Beide Länder, so die engagierte Botschafterin in Kiew, Anka Feldhusen, verbinde eine enge Freundschaft. Allein für Projekte der Entwicklungszusammenarbeit floss seit 2014 mehr als eine halbe Milliarde Euro, deutsche Experten begleiten den Reformprozess. In schwierigen Momenten zeigte sich Deutschland solidarisch: Nach der gewaltsamen Unterdrückung proeuropäischer Maidan-Proteste in Kiew flog die Luftwaffe verwundete Demonstranten zur Behandlung nach Deutschland aus, später zahlreiche im Krieg in der Ostukraine verwundete Soldaten.

Die Freundschaft steht auf dem Spiel

Doch all das zählt in den Augen vieler Ukrainer wenig, seit neuerdings mehr als 100.000 einsatzbereite russische Soldaten das Land von drei Seiten umstellen. Die Ukraine bangt um ihre Existenz als souveräner Staat.

DW I Kommentarbild  Eugen Theise
DW-Redakteur Eugen Theise ist in Kiew geboren und aufgewachsenBild: Privat

Um dem Land gegen die russische Übermacht den Rücken zu stärken, liefern Tschechien, die USA, Großbritannien und die baltischen Staaten Defensivwaffen wie moderne Panzerabwehrraketen. Bei der sich abzeichnenden Größenordnung der befürchteten russischen Invasion sind diese bisherigen Lieferungen eher symbolisch als kriegsentscheidend. Dennoch sind es ermutigende Signale für Kiew - zeigen sie doch Moskau klar, dass die Ukraine Verbündete hat. Und je mehr Gegenwehr zu erwarten ist, umso höher die innenpolitischen Kosten für Wladimir Putin. Welche politische Dynamik eine erfolglose militärische Invasion mit tausenden Toten auslösen kann, weiß man in Moskau seit dem Afghanistan-Desaster, das in den 1980er-Jahren die Dämmerung der Sowjetunion mit einläutete.

In Berlin aber bleiben Kiews Rufe nach Waffen zur Verteidigung unerhört. Statt Raketen gibt es aus Deutschland nur ein Feldlazarett. Berlins Unentschlossenheit irritiert selbst die Partner im Westen. So flogen britische Militärmaschinen mit Waffen und Munition auf dem Weg in die Ukraine einen Bogen um den deutschen Luftraum. In Estland schüttelt man den Kopf über Berichte, wonach Deutschland Tallin die Zustimmung zur Lieferung eingelagerter Geschütze aus alten DDR-Beständen verweigere. Man wolle die Lage nicht zusätzlich eskalieren, heißt es aus Berlin. Als läge es nicht einzig in Putins Hand, wann in diesem Konflikt die nächste Eskalationsstufe gezündet wird.

Zeichen der Schwäche

Der russische Präsident kennt nur das Recht des Stärkeren, wie die Bundeskanzlerin bereits 2014 richtig erkannte. Schon damals drohte Berlin mit schmerzhaften Sanktionen, doch beeindruckt haben sie den Revisionisten im Kreml wenig. Acht Jahre später ist die Krim nach wie vor besetzt, Teile der Ostukraine unter russischer Kontrolle.

Wer sich da noch auf Sanktionen verlässt, um auf breiter Front aufgefahrene Panzer zu stoppen, zeigt Schwäche. Moskau dürfte es nicht entgangen sein, dass in der EU nur Strafmaßnahmen durchsetzbar sind, die möglichst keinem in der Gemeinschaft selbst weh tun. Eher wird ein Wolf Vegetarier, könnte man im Kreml denken, als dass angesichts 20 Milliarden Euro deutschen Direktinvestitionen in Russland die EU unter deutscher Führung wirklich erschütternde Sanktionen verhängt.

Das deutsche Mantra - ein Hohn für die Ukraine

Putin wird nicht locker lassen. Eine demokratische, europäische Ukraine ist für das Regime in Moskau eine ernste Gefahr. Sollte dieses freie Land eines Tages wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen, könnten die Russen vermehrt an ihrem eigenen Regime zweifeln. Was passiert, wenn das Gesellschaftsmodell von nebenan wesentlich lukrativer erscheint als das eigene, hat Putin schon als KGB-Mann in der späten DDR miterlebt.

Deutschland, 2014 noch an der Seite der Ukraine in ihrem Freiheitskampf, macht sich heute einen schlanken Fuß. Das Mantra, man liefere keine Waffen in Krisengebiete, klingt für die Ukrainer wie Hohn: Sie können ja am wenigsten dafür, dass ihr Land seit acht Jahren Krisengebiet ist.

Vieles geht, wenn man will

Doch in Wirklichkeit sind Waffenlieferungen in Krisengebiete möglich, wenn nur der politische Wille da ist. Das zeigten vor sieben Jahren beispielsweise deutsche Lieferungen an die Kurden im Irak. Genauso wie es damals möglich war, die Kurden im Kampf gegen die Dschihadisten des "Islamischen Staats" zu unterstützen, sollte es auch möglich sein, einem befreundeten Land in Europa, das von einem übermächtigen Despoten bedroht wird, mit Lieferung von Waffen zur Selbstverteidigung beizustehen.

Deutschland sollte aus der jüngsten Vergangenheit gelernt haben, dass Beschwichtigung gegenüber Moskau der falsche Weg ist: Bereits 2008 standen die Ukraine und Georgien im Vorzimmer der NATO - aus Furcht vor russischen Begehrlichkeiten. Es war Deutschland, das damals auf dem Gipfel von Bukarest einen "Membership action plan" für beide Länder verhinderte - um bloß Moskau nicht zu provozieren. Putin nutzte seine Chance: Wenige Monate später marschierte Russland in Georgien ein, 2014 folgte die Ukraine.