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GesellschaftEuropa

Wir brauchen wieder eine Zukunft

Kommentarbild Muno Martin
Martin Muno
31. Dezember 2022

2022 wurden viele Gewissheiten zerstört. Deswegen brauchen wir eine neue, weltversöhnende Vorstellung von unserer Zukunft, meint Martin Muno.

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Eine winterlich verschneite Straße vor aufgehender Sonne
Gesucht: das Narrativ einer versöhnlichen ZukunftBild: Marc John/IMAGO

Man muss es so hart sagen: Das Jahr 2022 war beschissen. Okay, das ist normalerweise keine passende Wortwahl für einen seriösen Kommentar. Aber manchmal geht es nicht anders. Denn man weiß gar nicht, wo man beginnen soll mit all den Brüchen und Verwerfungen dieses Jahres.

Fangen wir also der Übersicht halber im Kleinen an:  Am 16. Dezember platzte in Berlin der Aquadom, das größte zylindrische Aquarium der Welt. Eine Million Liter Wasser ergoss sich in das Hotel, in dem es stand; hunderte Fische verendeten. Man kann das als skurrile Episode sehen, aber auch als Symbol für das Ende einer unbeschwerten Epoche. Denn niemand bemerkte die feinen Haarrisse - nicht in dem gigantischen Becken und nicht die in unseren Gesellschaften.

Ukraine-Krieg: Die große Ent-Täuschung

Der große globale Riss vollzog sich am 24. Februar: COVID hielt die Welt noch eisern im Griff, als russische Truppen in die Ukraine einmarschierten. In der Folge wurden nicht nur zig-tausende Menschen getötet, Stadtteile, Häuser und Infrastruktur zerstört, sondern auch zahlreiche Illusionen.

Porträtfoto von Martin Muno
DW-Redakteur Martin Muno

In Deutschland und Europa war diese Ent-Täuschung besonders heftig: Politiker und Bevölkerungen mussten schmerzhaft lernen, dass ein Eroberungskrieg auch im 21. Jahrhundert blutige Realität ist. Und dass russisches Gas nicht für alle Zeiten grenzenlos und billig verfügbar ist.

Was folgte, war eine hektische Politik, in der Milliardensummen in Militärhaushalte umgeschichtet wurden und Regierungen panisch nach neuen fossilen Energiequellen suchten.

Die multiple Krise

Wenn einmal etwas reißt, treten rasch weitere Risse auf oder Haarrisse werden sichtbar: Die Preise steigen, Handwerker kommen nicht, sei es aus Personal- oder Materialmangel, in Supermärkten bleiben immer mal wieder Regale leer, vielerorts werden zunehmend Medikamente knapp - alles Phänomene, die in zahlreichen Staaten in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend unbekannt waren.

Und die größte aller Krisen, der Klimawandel, blieb dabei auf surreale Weise im Hintergrund. Wer denkt an die Erderwärmung, wenn er oder sie befürchten muss, im Winter zu frieren? Währenddessen rückt der Erdüberlastungstag - also der Tag, an dem wir die globalen Ressourcen eines Jahres verbraucht haben - Jahr für Jahr weiter nach vorne.

Dabei sollte uns allen klar sein, dass es angesichts dieser multiplen Krise nicht mehr so weiter gehen kann wie bisher. Das aber ist ein Problem für ein Wirtschaftssystem, das auf einem dauerhaften und wachsenden "weiter so" beruht. Weil wir alle wissen, dass wir künftig nicht mehr so leben und konsumieren können wie bisher, erfüllt viele das mit tiefer Unsicherheit.

Trauer auf die untergehende Welt

Und so kommt es, dass Viele einer Welt nachtrauern, von der sie wissen, dass es sie bald so nicht mehr geben wird. Im schlimmsten Fall führt das zu einer Realitätsverweigerung, in eine Flucht hin zu rechtspopulistischen Ideologien oder Verschwörungsmythen.

Oder wir verstärken unsere Anstrengungen, nur um Schlimmeres zu verhindern. Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt das so: "Wir haben nicht mehr das Gefühl, wir laufen nach vorn und auf einen Horizont zu, und es macht Spaß, zu kämpfen, sich anzustrengen, um etwas zu schaffen. Jetzt müssen wir immer schneller laufen, bloß um nicht abzurutschen. Wir laufen gegen einen Abgrund zu, der immer näher auf uns zukommt."

Eine Perspektive auf Morgen

Was uns fehlt, ist eine gemeinsame Perspektive auf Morgen, ein Narrativ einer guten Zukunft. Die meisten bestehenden Zukunftsbilder sind mangelhaft, denn es sind entweder Dystopien oder naive Fortsetzungen des Bestehenden mit besserer Technologie, also die Idee, dass wir bald eine Maschine erfinden, die das CO2 irgendwie wegzaubert oder die Armut beseitigt.

Wir brauchen also eine konkrete Vorstellung davon, wie wir leben wollen. Wie der Traum nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Erzählung "wachsender Wohlstand durch Bildung und Anstrengung" hieß. Etwas, für das es sich zu engagieren lohnt

Die 17 UN-Ziele mit Leben füllen

Als Abstraktion gibt es so eine Vorstellung schon, etwa in den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (SDGs). Und es gibt eine Vielzahl von Ideen, von lokale Ernährungsräten bis hin zu CO2-freien Energiekonzepten. Ein gemeinsames Wirtschaften ohne den Zwang andauernden Wachstums - denn unser Globus ist nun einmal begrenzt. Aber zum einen sind diese Konzepte thematisch eng begrenzt und denken nicht das große Ganze. Zum anderen findet die Debatte darüber in engen Zirkeln von Aktivisten und Aktivistinnen statt. Das Gros der Gesellschaft fühlt sich hier noch nicht mitgenommen. 

Die unterschiedlichen Ideen müsste man in ein kohärentes, für Alle verständliches politisches Konzept gießen, über das man leidenschaftlich diskutieren könnte. Erst wenn das gelingt, wenn klar ist, welchen Weg wir gemeinsam gehen wollen, ließe sich mit dem Philosophen Theodor W. Adorno sagen, "der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet".

Kommentarbild Muno Martin
Martin Muno Digitaler Immigrant mit Interesse an Machtfragen und Populismus