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Politik

Merkel gibt Gewissensfreiheit

27. Juni 2017

Ganz plötzlich ist die Kanzlerin dafür, frei über eine Ehe für Homosexuelle im Bundestag abstimmen zu lassen. SPD, Grüne und Linke sind schon lange dafür. Den Fraktionszwang hat sie jetzt aufgehoben.

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Deutschland Angela Merkel mit deutscher Flagge
Bild: Getty Images/AFP/T. Schwarz

Sigmar Gabriel ist sauer - stinksauer, könnte man sagen. Der Außenminister und Vizekanzler von der SPD sitzt an diesem Dienstag vor rund einhundert Journalisten in Berlin und zählt auf, wie oft CDU und CSU in den letzten Jahren nichts wissen wollten von der "Ehe für alle", also von der vollen Gleichstellung von Homosexuellen auch vor dem Standesamt. Eigentlich ist Gabriel hier, um mit allen anderen SPD-Ministern eine Bilanz zu ziehen nach fast vier Jahren an der Macht an der Seite der Konservativen. Aber darüber spricht jetzt kaum jemand. Die "Ehe für alle" ist das Thema der Stunde.

Merkels rasanter Meinungswechsel

Immer wieder, sagt Gabriel, habe er für das Thema geworben, immer wieder hätten die Konservativen das kalt abgelehnt, zuletzt im März, vor gut 100 Tagen. Und jetzt das: Da setzt sich die Kanzlerin (und CDU-Chefin) Angela Merkel am Montagabend in eine Talkshow und erklärt, das könne man doch gut der Gewissensfreiheit aller Abgeordneten überlassen. Und schon droht der SPD wieder ein Wahlkampfthema abhanden zu kommen. Die Kanzlerin ist doch auch nicht gegen die Ehe für Schwule und Lesben,  warum also SPD wählen?

SPD will noch diese Woche abstimmen lassen

Aber so schnell will sich die SPD nicht geschlagen geben: Denn Merkel will über die "Ehe für alle" erst im neuen Bundestag, nach der Wahl im September, abstimmen lassen - und das Thema so aus dem Wahlkampf heraushalten. Aber sie fordert die SPD damit jetzt heraus. Noch tagt der alte Bundestag, in dieser Woche zum Beispiel.

Deutschland SPD zur Bilanz der großen Koalition
Will schon diese Woche darüber abstimmen: Martin Schulz setzt Merkel unter ZeitdruckBild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

SPD, Linke und Grüne wollen schon jetzt eine freie Abstimmung: "Wir glauben, dass man eine Gewissensentscheidung jetzt nicht auf die lange Bank schieben muss, die kann man auch in dieser Woche treffen. Das Gewissen ist ja nicht an Fristen gebunden", bringt SPD-Chef und Kanzlerkandidat Martin Schulz das auf den Punkt. Und Gabriel, immer um eine gute Schlagzeile bemüht, zitiert frei aus Schillers Don Carlos:  "Madame - geben Sie Gewissensfreiheit. Und zwar jetzt."

Mit der Opposition gegen die eigene Regierung?

Die Journalisten reiben sich die Hände. Das kann ja eine spannende Woche werden im Bundestag: Denn jetzt schon den Weg frei zu geben für eine Ehe für Homosexuelle - das könnte vielen Konservativen doch sehr schwer fallen, trotz des Kurswechsels der Kanzlerin. Also könnten die Sozialdemokraten (eine Regierungspartei) mit Linken und Grünen (also der Opposition) gegen große Teile der CDU und der CSU stimmen, quasi mit dem Segen Merkels. Wie mag das wohl ankommen an den konservativen Stammtischen im Land? Und wäre dann nicht eigentlich die Koalition  aus CDU, CSU und SPD am Ende?

„Erfolgsbilanz" gerät in den Hintergrund

Die SPD macht also Dampf, auch, weil die Kanzlerin ihr wieder einmal die Show gestohlen hat - ausgerechnet jetzt, wo tatsächlich alle SPD-Kabinettsmitglieder zusammen gekommen sind, um dem Wahlkampf neuen Schwung zu verleihen. "Erfolgsbilanz der SPD in der Regierung" heißt die Veranstaltung offiziell, aber das ist nur noch ein Randthema. Martin Schulz zählt trotzdem auf: Mindestlohn verabschiedet, Klima geschützt, gegen rechte Parolen und Hass im Netz vorgegangen, im Ukraine-Konflikt und im Streit mit der Türkei stets mäßigend gewirkt: alles Leistungen von SPD-Ministerinnen oder -Ministern. "Wir haben dieses Land modernisiert und sicherer gemacht. Aber wir können mehr. Wir wollen selbst den Kanzler stellen", ruft Schulz in den Saal, also der, der es werden will - wohl wissend, wie weit die SPD mittlerweile zurückliegt  in den Umfragen hinter Merkel und ihrer CDU.

Deutschland Homoehe Symbolbild Holzapfel und Scattler auf dem Marienplatz in München
Möglich sind in Deutschland bisher "eingetragene Lebenspartnerschaften". Alle Rechte haben schwule Paare dabei nichtBild: Reuters/T. Schwarz

Die Woche wird spannend….

Und das doch auch, so argwöhnt die SPD, weil Merkel sich allen inhaltlichen Debatten verweigert oder einfach Positionen der Konkurrenz übernimmt, um sie zu entschärfen - wie jetzt bei der „Ehe für alle". Einen "Anschlag auf die Demokratie" hat Schulz das auf dem Parteitag am Wochenende genannt. Das wiederholt er jetzt so nicht, denn das hat ihm viel Kritik eingebracht. Aber er wirkt umso entschlossener, beim Thema "Ehe für alle" jetzt den Konflikt mit dem Koalitionspartner zu wagen. Diese letzte große Sitzungswoche des Bundestages vor der Bundestagswahl im Herbst kann eine der spannendsten überhaupt werden...