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Merkels riskante Operation

3. Juni 2011

Schafft es Deutschland, ab 2022 ohne Atommeiler auszukommen? Manche Politiker sprechen von einer "Operation am offenen Herzen". Bundeskanzlerin Merkel will die Opposition ins Boot holen und traf die Ministerpräsidenten.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) (Foto: AP)
Schwierige Mission: Angela MerkelBild: AP

Es ist eine gewaltige Herausforderung: Deutschland will bis 2022 eine atomkraftfreie Energiestruktur schaffen, bei sozialverträglichen Strompreisen, ohne die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die Einhaltung der Klimaziele zu riskieren - und ohne ein Land der Stromausfälle zu werden. Den Zweiflern hält der Chef der von der Regierung eingesetzten "Ethikkommission Sichere Energieversorgung", Klaus Töpfer, früherer Chef des UN-Umweltprogrammes, entgegen: "Wenn Du nicht glaubst, dass es geht, dann geht es auch nicht."

Der Vorsitzende der Ethik-Kommission 'Sichere Energieversorgung', Klaus Töpfer (Foto: DW)
Klaus Töpfer will die Zweifler überzeugenBild: DW-TV

Ganz in diesem Sinne vollzieht die bis vor kurzem noch atomkraftfreundliche Koalitionsregierung aus Christdemokraten und Liberalen ihre Kehrtwende mit demonstrativer Entschlossenheit. Am liebsten würde man die Ausstiegsgesetze schon vor der Sommerpause im Parlament verabschieden, und am allerliebsten im Konsens mit der Opposition, notfalls aber auch allein. Den Deutschen als Pionieren des Atomausstiegs verheißt Kanzlerin Angela Merkel Wohlstand und Wachstum: "Wir können als erste große Industrienation eine solche Wende zu hocheffizienten und erneuerbaren Energien schaffen, mit all den Chancen, die für Exporte, für Entwicklungen, für Technologien, für Arbeitsplätze darin liegen. "Manche Politiker im Regierungslager beschwören eine "nationale Kraftanstrengung", vergleichbar der deutschen Einheit.

Die Opposition traut Merkels Ausstieg nicht

Auch die Opposition ist im Prinzip für den Ausstieg, aber Grüne und Linke wollen ihn noch früher als 2022 vollziehen. Vor allem jedoch wollen die Oppositionsparteien den Atomausstieg unumkehrbar machen, weil sie der Regierungskoalition nicht über den Weg trauen. Grünen-Chef Cem Özdemir kritisiert, dass die Regierung die meisten Atommeiler noch bis zum Ausstiegsdatum laufen lassen will: "Und dann sagt man, jetzt sind wir leider noch nicht soweit, wir schaffen das nicht mit den erneuerbaren Energien, jetzt müssen wir die Atomkraftwerke vielleicht doch noch mal länger laufen lassen."

Das Atomkraftwerk Neckarwestheim (Foto: dpa)
Abgeschaltet: Das Kernkraftwerk Neckarwestheim in Baden-WürttembergBild: picture alliance/dpa

Wer einen glaubwürdigen Atomausstieg wolle, der müsse die AKWs Schritt für Schritt ausschalten, mit klaren Jahreszahlen und ohne jede Hintertür, erklärten Grüne und SPD. Da sich auch die Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer hinter diese Forderung stellen, versicherte Bundeskanzlerin Merkel, es werde genaue Zeitpläne für die Abschaltung jedes einzelnen Reaktors geben. Die Linke und die SPD möchten den Atomausstieg sogar in der Verfassung festschreiben. Doch Forderungen stellt nicht nur die Opposition. Der Energiekonzern EON kündigte bereits milliardenschwere Schadenersatzklagen an, andere werden folgen. Ärger droht daneben auch von Bürgerinitiativen. Zwar ist eine Mehrheit der Deutschen seit langem für den Atomausstieg. Doch wenn vor allem der Ausbau der Windkraft vorangetrieben wird, müssen neue Stromtrassen durch die Landschaft gezogen und riesige Windräder gebaut werden, die eigentlich niemand in seiner Nachbarschaft haben möchte. Einige Bundesländer fürchten außerdem um ihre Planungshoheit. Wie einst für den "Aufbau Ost" will die Regierung Ausnahmeregelungen verabschieden, die das Genehmigungsverfahren beschleunigen.

Warnungen vor einem Strom-"Blackout"

Auch die Frage, wie teuer Strom in Deutschland künftig wird, kann noch niemand zuverlässig beantworten. Bisher ist von moderaten Preissteigerungen für die Bürger die Rede. Unternehmen mit hohem Energieverbrauch will die Regierung zunächst mit einer halben Milliarde Euro unterstützen, was diesen aber viel zu wenig ist.

Der Präsident der Bundesnetzagentur, Matthias Kurth (Foto: dpa)
Bundesnetzagenturpräsident Matthias Kurth: "Stromausfälle schon zu Pfingsten"Bild: picture-alliance/dpa

Am spannendsten ist die Frage, ob die Stromversorgung der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt künftig auch in Spitzenbelastungszeiten auf stabilen Füßen stehen wird. Angela Merkel fürchtet die fatalen Folgen, die ein Zusammenbruch der Stromversorgung hätte. Fukushima sei eine Lehre für den Umgang mit Risiken insgesamt, meint die Kanzlerin: "Wir können auch mit dem Risiko eines "Blackouts" jetzt nicht so umgehen, dass wir hoffen, dass es schon nicht passieren wird. Sondern wir müssen das sorgsam machen. Denn der Schaden für das Land wäre beträchtlich."

Nach dem Fukushima-Schock sind in Deutschland bereits sieben ältere Reaktoren heruntergefahren worden. Die Stromnetze seien an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, warnt der Chef der zuständigen Bundesagentur, Mathias Kurth, und spricht von möglichen Stromausfällen schon zu Pfingsten. Greenpeace dagegen verdächtigt die Energieversorger, sie dramatisierten die Lage, um die Abschaltung von Atommeilern hinauszuzögern.

Autor: Bernd Gräßler
Redaktion: Arne Lichtenberg