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"Der Druck hat mich aufgefressen"

11. März 2018

Per Mertesacker berichtet in einem bemerkenswerten Interview des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" über den immensen Druck im Geschäft Profifußball. Für seine Offenheit wird er nun von ehemaligen Kollegen kritisiert.

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Per Mertesacker und Mesut Özil nach dem Spiel gegen AS Monaco
Bild: picture alliance/empics

Groß wie ein Baum, unerschrocken im Zweikampf, ein nervenstarker Anführer - so ist das Bild von Per Mertesacker in der Öffentlichkeit. Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Der Leistungsdruck hat dem Fußball-Weltmeister während seiner gesamten Karriere körperlich und mental stark zu schaffen gemacht. Vor jedem Spiel habe sein Körper mit Brechreiz und Durchfall gestreikt, mitunter habe er eine "totale Erschöpfung" verspürt, verriet der 33-Jährige dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel": "Der Druck hat mich aufgefressen."

221 Bundesliga-Spiele, 155 Partien für Arsenal London in der Premier League, dazu zahlreiche internationale Auftritte mit seinen Vereinen sowie mit der deutschen Nationalmannschaft. Auch beim "Sommermärchen 2006" stand der Innenverteidiger auf dem Platz. Deutschland verlor in Dortmund in der Verlängerung des Halbfinales gegen Italien, die meisten Spieler lagen weinend auf dem Rasen, Millionen Fans am Fernseher und im Stadion waren tief enttäuscht. Mertesacker aber, der 104-malige Nationalspieler, erzählt zwölf Jahre später, was er in jenem Moment gedacht hat: "Vor allem war ich erleichtert. Ich weiß es noch, als wäre es heute. Ich dachte nur: Es ist vorbei, es ist vorbei. Endlich ist es vorbei."

Vorfreude auf das Karriereende

Aus Scham und auch aus Angst vor beruflichen Konsequenzen verschwieg der Abwehrspieler des FC Arsenal seine Probleme. Nun aber, wenige Monate vor seinem Karriereende nach 15 Jahren Profifußball, wolle er "für die nachfolgenden Generationen" auch die Schattenseiten des angeblichen Traumberufes ausleuchten. Mertesackers bemerkenswert offene Aussagen geben in der Tat einen anderen Blick auf das Leben eines Profifußballers. 

UK | Fußball | Hull City v Arsenal
Per Mertesacker im Trikot von Arsenal LondonBild: picture-alliance/empics/S. Bellis

Damit Trainer, Mitspieler und Gegner nichts mitbekommen, habe er in diesen Sekunden den Kopf stets zur Seite gedreht. Bloß keine Schwäche zeigen. Schnell habe er realisiert, "dass du abliefern musst, ohne Wenn und Aber. Selbst wenn du verletzt bist". In diesem Job müsse man bereit sein, seine "Gesundheit zu opfern". Eine Verletzungspause sei mitunter "der einzige Weg, eine legitimierte Auszeit zu bekommen, mal raus zu sein aus der Mühle". Mertesacker glaubt, dass viele seiner Verletzungen "psychisch bedingt" waren. Aktuell lässt ein Knorpelschaden im Knie keine Spiele zu, aber das ist ihm ganz recht: "Am liebsten sitze ich auf der Bank, noch lieber auf der Tribüne." Schon jetzt freue er sich auf sein Karriereende. "Dann werde ich mit über 30 Jahren zum ersten Mal in meinem Leben frei sein."

Kritik von früheren Wegbegleitern

Von ehemaligen Wegbegleitern aus dem Fußball-Geschäft war jedoch auch Unverständnis zu hören: Christoph Metzelder war bei der WM 2006 der Nebenmann von Mertesacker in der deutschen Innenverteidigung. "Ich habe die WM 2006 überhaupt nicht so empfunden. Ab einem gewissen Punkt waren wir auf einer Welle", sagte er als Experte des TV-Senders Sky. Rekordnationalspieler Lothar Matthäus bezog in der gleichen Sendung besonders deutlich Stellung: "Nationalmannschaft spielt man freiwillig. Er hätte ja aufhören können, wenn der Druck so groß war", sagte der 56-Jährige. Und: "Wie will er nach diesen Aussagen weiter im Profifußball tätig sein? Er hat doch die Idee, im Nachwuchs zu arbeiten. Wie will er einem jungen Spieler diese Professionalität vermitteln, wenn er sagt, dass da zu viel Druck ist? Das geht nicht." 

"Das System angreifen"

Über das Thema Druck im Profifußball wird immer nur in kurzen Aufmerksamkeitsschüben diskutiert, so etwa nach dem Suizid des früheren Nationaltorwarts und Mertesacker-Freundes Robert Enke 2009. Mertesacker selbst beklagt genau das. Das Gerede über mehr Menschlichkeit im Fußball seien nur schöne Worte, sagte er.

Mertesacker wird im Sommer eine leitende Position in der Nachwuchsakademie von Arsenal übernehmen. Er wolle in seinem neuen Job "das System angreifen" und den Jugendlichen auch auf dem zweiten Bildungsweg helfen. Mertesacker betont, dass ihm "die Privilegien meines Lebens bewusst" seien, und dass er seinen Lebensweg trotz seiner Probleme nicht bereue. Die Schattenseite will Mertesacker aber nicht länger verschweigen.

tk/asz (dpa, sid)