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Politik

Wenn Gewalt zu Terrorismus wird

Anabel Hernández
13. November 2019

Die Regierung hat keine Strategie gegen die Drogenkartelle, die Gesellschaft angesichts der ausufernden Gewalt narkotisiert. Die Grenze zum Terrorismus ist in Mexiko längst überschritten, meint Anabel Hernández.

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Am 17. Oktober 2019 zwang eine Bande des Sinaloa-Kartells in Culiacán die Regierung in die Knie.Bild: Reuters/J. Bustamente

Mexiko hat drei Probleme:

(1) den Drogenkrieg

(2) die über die Jahrzehnte von der herrschenden "Partei der institutionalisierten Revolution" (PRI) tolerierte Korruption

(3) eine abgestumpfte Gesellschaft, die sich scheinbar an all das gewöhnt hat, als wäre es ein folkloristisches Phänomen. 

Zusammengenommen zerstört dies das soziale Gefüge und die Institutionen des mexikanischen Staates. Immerhin kann Mexiko inzwischen als abschreckendes Beispiel für andere Nationen und Gesellschaften dienen.

In den vergangenen 18 Jahren sind in Mexiko Dinge vorgefallen, die man in anderen Ländern als offenen Kriegszustand bewertet hätte und die in jedem anderen Kontext von der internationalen Gemeinschaft verurteilt worden wären. In anderen Ländern hätte sich auch Zivilgesellschaft mobilisiert und von ihren Regierungen ein Ende der Gewalt und der Straflosigkeit verlangt.

Doch in Mexiko haben die Komplizenschaft und Untätigkeit der Behörden dazu geführt, dass sich im Krieg der Drogenbanden untereinander und gegenüber der Gesellschaft längst die Grenzen der Gewalt hin zum Terrorismus verschoben haben.

Fünf rollende Köpfe

Wann wurde diese Grenze überschritten? Ein Schlüsselereignis war im September 2006, als in einem Nachtclub in Uruapan (Provinz Michoacán) fünf abgeschlagene Menschenköpfe über eine Tanzfläche rollten. Eine Grausamkeit, über die damals auch internationale Medien berichteten. Sie geschah im Rahmen eines Krieges zwischen zwei Kartellen, der Organisation La Familia Michoacana und dem sogenannten Milleniumskartell.

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Unabhängig von aller Gewalt - die Kriminellen genießen bei vielen Mexikanern KultstatusBild: Getty Images/AFP/P. Pardo

Die Barbarei zeigte ihr neues Gesicht, um Angst zu schüren - nicht nur gegenüber der rivalisierenden kriminellen Gruppe, sondern auch gegenüber der Gesellschaft. Nie zuvor war etwas Derartiges geschehen, und das, obwohl der Drogenkrieg zwischen den verschiedenen Kartellen in Mexiko schon um 2002 begonnen hatte. 

Zwei Jahre später, am 15. September 2008, explodierten während eines Volksfestes zur Feier des Unabhängigkeitskrieges zwei Granaten auf einem öffentlichen Platz in Morelia. Drei Menschen starben und mehr als 132 wurden verletzt. Viele der Verletzten verloren mehrere Gliedmaßen.

Die Gewalt unter den Augen des Staates und der Gesellschaft setzte ihre destruktive Dynamik fort, bis ihre Allgegenwärtigkeit das Land veränderte. Das Leben in Angst ist normal geworden. Die Zahl der Toten und Verschwundenen füllt die offiziellen Statistiken und das Außergewöhnliche wurde zur Normalität.

Im August 2010 fand man "58 Männer und 14 Frauen, zumeist Mittelamerikaner, aber auch Ecuadorianer, Brasilianer und einen Inder, in Handschellen aneinandergekettet und zu Tode geprügelt - mit einer Brutalität wie man sie sonst nur von ISIS kennt", schrieb damals die spanische Tageszeitung El País über das Massaker an Migranten in San Fernando (Tamaupilas), das der kriminellen Gruppe Los Zetas zugeschrieben wurde. Bis jetzt wurde niemand für dieses Verbrechens angeklagt.

Die Polizei im Dienst der Kriminellen

Im Jahr 2016 veröffentlichte das Colegio de México, eine der renommiertesten akademischen Forschungseinrichtungen Mexikos, einen Bericht, in dem bestätigt wurde, dass in San Fernando mindestens 36 Polizisten für Los Zetas tätig sind.

DW Kolumne Anabel Hernández
DW-Kolumnistin Anabel Hernández

Die Organisierte Kriminalität in Mexiko einen neuen Maßstab des Horrors gesetzt: Im Jahr 2014 verschwanden 43 Studenten der Universität Raúl Isidro Burgos in Ayotzinapa bei einer gemeinsame Aktion von Militärs, Bundespolizei und lokaler Polizei. Dank der Familien dieser jungen Menschen und des sofortigen Protests, hat dieser Fall die mexikanische Regierung zwei Jahre lang in Atem gehalten. Die Geschichte dieser Lehramtsstudenten bewegte damals die Welt, bis man sich auch ihr nie aufgeklärtes Verschwinden gewöhnt hatte. Die einst aufgebrachten Bürger sind wieder in die Alltäglichkeit ihrer persönlichen Hölle zurückgekehrt, während die Regierung alle Hinweise verwischt, die dazu beitragen könnten, die Verantwortlichen zu finden und zu bestrafen.

Am 17. Oktober 2019 nahm eine kleine Gruppe des Sinaloa-Kartells in Culiacán Geißeln und zwang die mexikanische Regierung, den kurz zuvor festgenommenen und in den USA wegen Drogenhandels gesuchten Sohn eines Drogenbosses, Ovidio Guzmán López, freizulassen. Präsident Andrés Manuel López Obrador gab inzwischen öffentlich zu, dass der mexikanische Staat in die Knie gezwungen worden sei, und dass man Guzmán Junior freilassen musste, um "Leben zu retten".

Mexiko PK Obrador Gescheiterte Festnahme Ovidio Guzmán
Die Regierung versucht am 30. Oktober die gescheiterte Festnahme von Ovidio Guzmán zu erklärenBild: picture-alliance/Zuma/B. Fregoso

Ich habe unmittelbar nach diesem Eingeständnis darauf hingewiesen, dass diese Kapitulation der Regierung schwerwiegende Folgen für die mexikanische Gesellschaft haben wird. Diejenigen Leben, die der Staat glaubt gerettet zu haben, stehen jenen gegenüber, die er durch seine Untätigkeit der Willkür der Drogenkartelle ausliefert. Alle 120 Millionen Mexikaner werden so zu Geiseln des organisierten Verbrechens.

Der Präsident lächelnd beim Baseball

Die Grenzen dessen, was man gemeinhin als "Organisierte Kriminalität" definiert, sind in Mexiko überschritten. Aus Gewalt wurde längst Terrorismus. Erst am 4. November wieder die schockierende Tat gegen die mormonische Familie LeBarón: Drei Frauen und sechs Kinder, davon zwei Babys im Alter von sechs Monaten und vier weitere Kinder im Alter von zwei, zehn, elf und zwölf Jahren wurden in Nordmexiko massakriert - in einem Gebiet, das seit mehr als 20 Jahren vom organisierten Verbrechen kontrolliert wird. Acht andere Kinder konnten dem Massaker entkommen, indem sie in die Wüste liefen - einige mit Schusswunden im Rücken. 

Mexiko l Angriff auf Mormonenfamilie
Unter anderem in diesem ausgebrannten Auto wurden am 4. November die mormonisch Familie LeBarón brutal niedergemetzeltBild: picture-alliance/dpa/Alex leBaron

Die brutale alltägliche Gewalt, die geheimen Gräber überall, die Dutzende von Polizisten, die Monat für Monat getötet werden, dazu die willkürlichen Hinrichtungen durch Polizeikräfte - all das hat die Gesellschaft und die Behörden offenbar massiv betäubt. Wie gefühllos muss man sein, wenn der Präsident, der bis heute nicht am Ort des Geschehens war oder sich mit Überlebenden getroffen hat, sich zwei Tage nach dem Massaker stattdessen lächelnd bei einem Baseballspiel sehen lässt, um den mexikanischen Pitcher José Urquidy zu umarmen und ihn als "Wahnsinns-Baseballspieler" zu bezeichnen?

Einzige Daseinsberechtigung einer demokratischen Regierung ist die Durchsetzung von Recht und Ordnung. Doch die mexikanische Regierung hat keinerlei Strategie, um ihre Bürger zu schützen. Und die Gesellschaft selbst befindet sich angesichts der brutalen Gewalt im Narkosezustand. So ist es unmöglich, dem Terrorismus im Land die Stirn zu bieten.

Die Journalistin und Buchautorin Anabel Hernández berichtet seit vielen Jahren über Drogenkartelle und Korruption in Mexiko. Nach massiven Morddrohungen musste sie Mexiko verlassen und lebt seitdem in Europa. Für ihren Einsatz erhielt sie beim Global Media Forum der Deutschen Welle in Bonn den DW Freedom of Speech Award 2019.