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Politik

Anklage per Plebiszit?

17. September 2020

Mexikos Präsident will seine Amtsvorgänger per Volksbefragung vor Gericht bringen. Kritiker sprechen von einem "Polit-Zirkus", doch López Obrador könnte damit sein Ziel erreichen: einen Sieg bei den Zwischenwahlen 2021.

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Manuel Lopez Obrador gibt Pressestatement zum Maya-Zug
Mexikos amtierender Staatschef López Obrador will seine Vorgänger zur Rechenschaft ziehenBild: imago/Agencia EFE

"Sind Sie dafür, dass Carlos Salinas, Ernesto Zedillo, Vicente Fox, Felipe Calderón, und Enrique Peña vor Gericht gestellt werden?" lautet die Frage, die derzeit Passanten auf mexikanischen Straßen und Plätzen gestellt wird. Die fünf Genannten sind alle mexikanischen Expräsidenten der vergangenen 30 Jahre. Sie sind in den Augen des derzeit amtierenden, linksnationalistischen Präsidenten Andres Manuel López Obrador verantwortlich für ausufernde Korruption, Straffreiheit, Privatisierungen, Menschenrechtsverletzungen, Ungleichheit, Wahlfälschung, den Drogenkrieg und überhaupt für alles, was schief lief in Mexiko in den vergangenen drei Jahrzehnten.

Plebiszit statt Verfassungsänderung

Bislang genießen die ehemaligen Staatsoberhäupter Immunität, wie in vielen anderen Staaten der Welt auch, und hätten höchstens wegen Vaterlandsverrats zur Verantwortung gezogen werden können. Diese Immunität würde der seit 2018 amtierende López Obrador gerne abschaffen – es war eines seiner zentralen Wahlversprechen – doch die dafür nötige Verfassungsänderung bedarf qualifizierter Mehrheiten und nimmt die parlamentarischen Hürden nur im Schneckentempo. Vor kurzem stimmte die Abgeordnetenversammlung zu; es fehlt noch der Senat, und danach müssten noch die Kongresse von mindestens 16 der 32 Bundesstaaten zustimmen. Auch eine Klage vor dem Obersten Gericht könnte den Prozess weiter verzögern, und eine rückwirkende Anwendung auf seine Amtsvorgänger wäre gängigen Rechtsgrundlagen zufolge ohnehin nicht möglich.

Drogenbekämpfung im Mexiko
Mexikos Ex-Präsidenten sind nach Ansicht von López Obrador mitschuldig daran, dass das Land jetzt im Drogenkrieg stecktBild: picture-alliance/Photoshot/Xinhua/Notimex

All das ficht López Obrador aber nicht an. Öffentlich beteuert er zwar, er sei gegen eine Anklage seiner Vorgänger, de facto aber unternimmt er alles, um diese voranzutreiben. Die Abkürzung führt nun über ein Plebiszit. Das kann von der Bevölkerung oder vom Präsidenten beim Kongress beantragt werden. Doch den Heerscharen von Freiwilligen ist es trotz der Offensive auf Strassen und Plätzen offenbar nicht gelungen, die nötigen 1,8 Millionen Unterschriften im Volk einzusammeln. "Zur Sicherheit", erklärte López Obrador am Dienstag, werde er deshalb das Plebiszit selbst beantragen.

Eigentlich hätte Mexiko dringendere Probleme zu lösen. Noch ist die Pandemie nicht im Griff, über 70.000 Mexikaner verstarben bereits an Covid-19. Die Schulen sind weiterhin geschlossen, das Land steckt in einer Rezession, das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte in den vergangenen sechs Monaten um 18 Prozent. Eine Million Arbeitsplätze ging verloren. Und die Mordrate hat unter López Obrador neue Höchstwerte erreicht.

Ablenkungsmanöver mit Blick auf Wahlen

Vor diesem Hintergrund hält Ana Paula Odorica, Kolumnistin der Zeitschrift "El Universal", das geplante Plebiszit für reines "Spektakel": "Weit davon entfernt, den angeschlagenen Rechtsstaat zu stärken, wird er durch solche Aktionen noch weiter geschwächt", schreibt sie. Mexiko werde dadurch nicht gerechter oder weniger korrupt, sondern nur noch weiter gespalten. Auch für Jesús Silva Herzog-Márquez gleicht das Plebiszit einem "römischen Zirkus". Einen Gerichtsprozess per Volksabstimmung anzustreben sei der Gipfel der Politisierung der Justiz: "Mit partizipativer Demokratie hat dies nichts zu tun. Es ist ein Rückfall in die Barbarei, wo es reicht, unpopulär zu sein, um der Inquisition anheim zu fallen", schreibt der mexikanische Rechtsexperte in der Zeitung "Reforma".

Mexiko Vicente Fox
Einer der Ex-Präsidenten im Visier ist Vicente FoxBild: Getty Images/AFP/Y. Cortez

Ex-Außenminister Jorge Castañeda sieht Mexiko gar auf dem Niveau einer Bananenrepublik angekommen. López Obrador verfolge damit nur ein Ziel: die Zwischenwahlen im kommenden Jahr zu gewinnen. Bei ihnen wird die Abgeordnetenkammer genauso neu besetzt wie die Hälfte aller Gouverneursposten in den Bundesstaaten. López Obradors Sammelbewegung Morena liegt in Umfragen derzeit bei 40 Prozent – weit vor der konservativen Oppositionspartei PAN mit 24 Prozent.

Ein emotionalisierter Wahlkampf, der sich um die Abrechnung mit vergangenen Korruptionsfällen statt um die Herausforderungen der Gegenwart dreht, käme López Obrador zupass. Dies könnte den Vorsprung Morenas zementieren und dem Präsidenten die qualifizierte Mehrheit verschaffen, die er im Kongress für Verfassungsänderungen benötigt. Seine Gegner fürchten, López Obrador wolle damit - wie eine Reihe anderer lateinamerikanischer populistisch-autoritärer Staatschefs der Region zuvor - die in der Verfassung verankerte Begrenzung der Amtszeit aushebeln. López Obrador selbst hat das immer wieder bestritten.