1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Michel Temer: Vom Hinterzimmer ins Rampenlicht

Nicolas Martin13. Mai 2016

Seine Vorgängerin nennt ihn einen Verräter, das Volk vertraut ihm kaum, die Wirtschaft stärkt ihm den Rücken. Wer ist Michel Temer, der neue Staatschef von mehr als 200 Millionen Brasilianern?

https://p.dw.com/p/1InWr
Michel Temer (Foto: Copyright: Reuters/U. Marcelino)
Bild: Reuters/U. Marcelino

Könnten die Brasilianer ihren Präsidenten direkt wählen, dann hieße er wohl nicht Michel Temer. Die Popularität des 75-Jährigen liegt bei sensationell niedrigen ein bis zwei Prozent. Das ist sogar noch weniger als die bereits historisch schlechten Zustimmungswerte seiner nun für sechs Monate suspendierten Vorgängerin Dilma Rousseff. Als Vize in der Regierung hatte Temer das Amtsenthebungsverfahren mit in die Wege geleitet.

Nun ist Temer Übergangspräsident von mehr als 200 Millionen Brasilianern. Der Sohn libanesischer Einwanderer ist bereits seit drei Jahrzehnten politisch aktiv - meistens jedoch als Strippenzieher im Hintergrund.

Im Dezember 2015 erst kündigte Temer die langjährige Koalition mit der brasilianischen Arbeiterpartei PT auf. Doch die meisten Minister und auch der Vize wollten ihre Ämter nicht zurückgeben. Jetzt ist er Präsident.

"Noch vor sechs Monaten hätten wenige Menschen ihn auf einem Foto erkannt", ist sich Politologe Kai Kenkel von der Päpstlich-Katholischen Universität in Rio de Janeiro sicher.

Strippenzieher im Hintergrund

Öffentlich trat der promovierte Jurist Temer selten auf. Zu seinem Reich zählten bisher vor allem diskrete Restaurants, weitläufige Anwesen im brasilianischen Amazonas und die Hinterzimmer der Hauptstadt Brasília. Temer war Präsident des Abgeordnetenhauses und führt seit 2001 die Partei der demokratischen Bewegung (PMDB).

Michel Temer und Marcela Temer (Foto: Imago)
Michel Temer und seine mehr als 40 Jahre jüngere Frau Marcela Temer im Jahr 2011Bild: Imago

Aufsehen erregte bisher nur seine Frau. Die ehemalige Schönheitskönigin Marcela Temer ist mehr als 40 Jahre jünger und hat sich den Namen ihres Mannes in den Nacken tätowieren lassen. Ihr Mann bleibt öfebtlich eher zurückhaltend. "Er ist ein sehr geschickter und gescheiter politischer Macher", kommentiert Kenkel seinen Aufstieg. Wie ambitioniert Temer ist, zeigte sich schon vier Tage vor der Suspendierung Roussefs. Via Whatsapp hatte er seine Antrittsrede an seine Parteifreunde verschickt. Temer konnte ahnen, dass die Rede nicht lange geheim bleiben würde. "Ein gewiefter Schachzug, mit dem er seinen Machtanspruch in den Raum gestellt hat, ohne ihn öffentlich auszusprechen", so Kenkel.

Wenig glaubwürdig

Nun muss Temer zeigen, dass er es auch im Rampenlicht politisch etwas kann. In seiner ersten Rede versprach er, dem Land wieder "Glaubwürdigkeit" zurückgeben zu wollen. Ob er dafür der Richtige ist, bleibt dahingestellt. Wie viele seiner Parteikollegen steht auch Temer unter Korruptionsverdacht.

Der britische Guardian schrieb zuletzt "Im Vergleich zu Temer sei Judas ein Anfänger". Auch Dilma Rousseff nannte ihn zuletzt nur noch Putschist oder Verräter. Doch an dem immer adrett gekleideten Temer tropfen solche Angriffe ab. Dialog sei nun der "erste Schritt", um die Herausforderungen zu meistern, um das Land voranzubringen und wieder für Wirtschaftswachstum zu sorgen, so Temer bei seinem ersten Auftritt.

Freund der Wall Street

Wachstum gilt als Temers wichtigstes Thema. Brasilien steckt in der tiefsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. "Wir wollen die Arbeitslosigkeit reduzieren", versprach Temer. Mehr als 11 Millionen Menschen haben keinen Job. Der Nachrichtensender CNN schreibt, Temer sei bei der Wall Street deutlich beliebter als bei den Brasilianern. "Er wird in der Wirtschaftspolitik einen Kurs verfolgen, der gut für die Märkte und gut für die internationalen Investoren ist, aber schlecht für die Bevölkerungsschichten, die vom Kurs der bisherigen Regierung profitiert haben", prophezeit Politologe Kai Kenkel der momentan am Hamburger GIGA-Institut forscht.

Brasilien Proteste Demonstrationen Dilma Rousseff (Foto: Reuters/U. Marcelino)
Demonstrationen der Landlosenbewegung gegen das Amtsenthebungsverfahren von Dilma RousseffBild: Reuters/U. Marcelino

Die Arbeiterpartei von Dilma Rousseff brüstet sich damit, mit Sozialprogrammen mehr als 40 Millionen Brasilianer aus der Armut geholt zu haben. Temer hatte angekündigt, beim Sozialetat sparen zu wollen. Zugleich ließ er nun verlauten, große Programme für Familien und den sozialen Wohnungsbau fortzuführen. "Er kann die beiden Hauptsozialprogramme nicht so sehr streichen, wie er es gerne möchte", sagt Kenkel. "Ansonsten würde der Protest massiver ausfallen und sogar gewalttätig werden. Schon jetzt werden in zwölf Bundesstaaten Straßen von sozialen Organisationen wie beispielsweise den Landlosen blockiert."

Weiß und elitär

Das politische Profil des 75-Jährigen ist schwer zu umschreiben. Das liegt auch daran, dass seine Partei für ihren ideologischen Schlingerkurs bekannt ist. Gefördert wird die PMBD vor allem von Vertretern der Rüstungs-, Agrar-, und Bankenlobby, sowie von den Evangelikalen.

Viele seiner Kritiker stieß Temer bereits mit der Ernennung seiner Regierungsmannschaft vor den Kopf: Dem 24-köpfigen Kabinett gehören ausschließlich weiße Männer an. Auch lässt Temer keinen Zweifel, dass ihm an sozialen Themen nicht viel gelegen ist. So hat er das Kulturministerium auch das Ministerium für Frauen, Gleichstellung und Menschenrechte aufgelöst. "Er steht für die Interessen der Eliten, nicht für die des Volkes", kommentiert Politologe Kai Kenkel.

Kai Kenkel von Päpstlich-Katholische Universität Rio de Janeiro (Foto: Giga-Institut)
Kai Michael Kenkel von der Päpstlich-Katholischen Universität Rio de JaneiroBild: GIGA

Temer hat nun 180 Tage Zeit, um das Volk wie in seiner Antrittsrede versprochen, wieder zu einen. So lange wird sich der Senat mit den Vorwürfen gegen Rousseff befassen, um dann eine endgültige Entscheidung über ihre Amtsenthebung zu fällen. Stimmen sie erneut gegen Rousseff, bleibt Temer bis 2018 Präsident. Bei seinen momentan mickrigen Zustimmungswerten wird er aber wohl versuchen, Neuwahlen um jeden Preis zu vermeiden. Als Netzwerker im Hintergrund wird er die politischen Mehrheiten dafür wahrscheinlich bekommen. Den Menschen wird er auf diesem Weg aber wohl kaum näher kommen.