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Der Armutsfalle entgehen

Vera Möller-Holtkamp17. Oktober 2008

Unbürokratisch, schnell und sozial sind Mikrokredite. In Entwicklungsländern bewähren sie sich seit vielen Jahren. Jetzt boomen sie auch in Europa. Die Mechanismen des klassischen Bankensystems werden dabei umgekehrt.

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Kredite für BedürftigeBild: chromorange
Bertrand Delanoe (3.10. 2008, dpa)
Der Bürgermeister von Paris will Präsidentschaftskandidat werdenBild: picture-alliance/ dpa

Mitten in der Finanzkrise lanciert die Stadt Paris eine Initiative für Mikrokredite. Alarmierender Auslöser für die Initiative des Pariser Bürgermeisters Bertrand Delanoë war allerdings nicht die Erschütterung der Bankensysteme und Volkswirtschaften weltweit, sondern ein enormer Anstieg der Pfandleihgeschäfte. Im April 2008 stiegen diese im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent und sind seither auf konstant hohem Niveau geblieben. Das ist in Frankreich deutlich messbar, weil es hier seit 131 Jahren ein öffentliches Pfandleihsystem gibt, das vor Wucherzinsen privater Anbieter schützt.

Ökonomen lesen in dieser Entwicklung einen sicheren Indikator für den Verlust der Kaufkraft in Frankreich - kurz: ein Zeugnis sich ausbreitender Armut. Jetzt sollen Mikrokredite helfen: Paris wolle diesen Menschen "unter professionellen und gleichzeitig sozialen Bedingungen" zu Bargeld verhelfen, sagte der Bürgermeister Delanoë am 8. Oktober, als das System im 18. Stadtbezirk an den Start ging. Bis zum Jahresende soll es sukzessive in allen Stadtteilen der französischen Hauptstadt eingeführt werden.

Hilfe für die, die durchs Raster fallen

Wer dringend Geld benötigt und bei normalen Banken abgewiesen wird, kann sich bei der Stadt einen Kleinkredit zwischen 300 und 3000 Euro leihen. Die fungiert hier nur als Mittler, denn sie hat sich vier Banken ins Boots geholt und soziale Hilfsorganisationen, die die Kreditnehmer betreuen sollen. Das mit vier Prozent verzinste Darlehen muss innerhalb von drei Jahren zurückgezahlt werden. Wer pünktlich seine Schulden begleicht, bekommt die Hälfte der Zinsen in Nachhinein erstattet. "Es gibt nicht viele Kredite zu zwei Prozent", sagte der Paris Bürgermeister stolz. Und damit hat er Recht.

Symbilbild, Verlobungsring (Archivbild, AP)
Viele junge Leute können keinen Schmuck beleihen, weil sie keinen besitzen - Sie brauchen MikrokrediteBild: AP

Das Programm richtet sich zum einen an Arbeitslose, die sich zum Beispiel einen Führerschein oder eine Weiterbildung finanzieren wollen, um ihre Jobaussichten zu steigern. Die Mikrokredite von Paris wenden sich aber auch Privatpersonenm, die nicht auf Arbeitssuche sind. Wer durch einen Todesfall in der Familie auf einen Schlag etwa 1000 Euro Beerdigungskosten tragen müsse und von der Bank dafür kein Geld geliehen bekomme, der könne sich bei der Stadt melden, bestätigt Bernard Candiard, zuständiger Projektmanager im Bürgermeisteramt in Paris. Eine Scheidung, ein Autounfall, eine Krankheit: Das Leben hält viele Gründe für Liquiditätsprobleme bereit. Aber auch schon ein befristeter Arbeitsvertrag hindert normale Banken in Frankreich daran, die Kreditwürdigkeit eines Antragstellers zu genehmigen.

Schneller als eine Bank, langsamer als ein Pfandleihhaus

Auch Kleinstunternehmer gehören zur Zielgruppe, wenngleich sie mit dem landesweiten Angebot der Vereinigung Recht auf Wirtschaftsinitiative (ADIE) mit Kleinkrediten bereits gut versorgt sind. Wer beispielsweise einen neuen Computer braucht oder einen Lieferwagen reparieren lassen muss, kann dafür Geld bei der Stadt beantragen. Nicht mehr als einen Monat soll der Zeitraum zwischen Antragstellung und Auszahlung des Darlehens betragen.

Der Erfolg der Kleinkredite liegt in seiner Schnelligkeit, berichtet Marco Habschick von Evers&Jung, einem Hamburger Forschungsinstitut, das die deutsche Bundesregierung und Banken berät. Ein normales Kreditinstitut stellt eine langwierige Bonitätsprüfung an den Anfang und vergibt Darlehen - meist ab 20.000 Euro aufwärts. Die Rückzahlung dieser hohen Summe dauert nicht selten zehn Jahre oder länger.

Bei Mikrokrediten müsse man keine Kreditwürdigkeit vorweisen, im besten Falle ein ökonomisches Vorhaben beschreiben, so Habschick. Kurzfristig werden geringe Summen gewährt, und relativ rasch werden diese Schulden meist wieder beglichen. Alles bleibt überschaubar und kontrollierbar. Langwierige Antragsverfahren sind für viele Einzelpersonen und Kleinstunternehmer zu langwierig und daher auch zu kostspielig.

"Arme sind gute Schuldner"

iMuhammad Yunus - Gründer der alternativen Grameen-Bank (Archivbild, dpa)
Muhammad Yunus - Gründer der alternativen Grameen-BankBild: picture-alliance / dpa

"Das System der Mikrokredite stellt das Bankensystem auf den Kopf", sagt Habschick. Traditionell gilt als kreditwürdig, wer Sicherheiten vorzuweisen hat. Bankkunden seien aber oft falsch eingeschätzt worden. "Arme sind gute Schuldner", beteuert Habschick und verweist auf die Erfahrungen, die der Erfinder Mikrokredite Mohammed Junus seit 1983 mit seiner Grameen Bank in Bangladesch sammeln konnte und dafür 2006 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde. 25 Jahre später gibt es diese Bank in mehr als der Hälfte der Dörfer Bangladeshs und zählt 2,1 Millionen Kreditnehmer. 94 Prozent sind Frauen.

Als Paradebeispiel wird gerne die Frau genannt, die Geld für eine Nähmaschine borgt und damit ein erfolgreiches Kleinstunternehmen aufbaut. Der Kleinstkredit sichert der Frau und ihrer Familie das Überleben und macht sie unabhängig. Aber nicht nur in Bangladesch, Indien, in vielen afrikanischen und südamerikanischen Ländern funktioniert das solidarisch Geldverleihen an die Ärmsten der Armen. Auch in Europa ist das System erfolgreich - wenngleich noch in der Entwicklung.

Boom in Europa

Die Europäische Kommission startete im Jahr 2007 eine Initiative zur Entwicklung des Mikrokredits. Für den Zeitraum 2007 - 2013 haben Europäische Kommission und der Europäische Investmentfonds eine Initiative namens JEREMIE (Joint European Resources für Micro to Medium Entreprises Initiative) ins Leben gerufen. Frankreich ist Vorreiter und mit 10.000 vergebenen Mikrokrediten im Jahr 2007 im europäischen Vergleich zahlenmäßig führend. Aber auch Mittel- und Osteuropa sind relativ stark entwickelt, besonders Bulgarien und Rumänien. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus haben hier Mikrokredite eine wichtige Lücke geschlossen. In Deutschland geht die Verbreitung echter Kleindarlehen nur schleppend voran. Die europäische Gesamtbilanz sieht trotzdem positiv aus.

Ameise Symbolbild (Archivbild, AP)
Fleissiger Arbeiterin - die AmeiseBild: AP

Im Jahr 2007 wurde in Europa eine durchschnittliche Rückzahlungsquote von 89 Prozent erreicht, wie das Europäische Netzwerk für Mikrofinanz in ihrem aktuellen Bericht vorrechnet. Von solchen Zahlen können normale Banken nur träumen.

Ameise im Logo

Mikrokreditexperten wie Bernard Candiard und Marco Habschick betonen in ihrem Werben für die solidarischen Darlehen immer wieder das motivierende Moment, das ein Mikrokredit mit sich bringt. Die Menschen, die Hilfe beantragen, schaffen es aus eigener Kraft, ihre Situation zu verbessern. Aber viele Kommunen scheuen immer noch vor dem System zurück, das man über einen längeren Zeitraum betreuen muss und bei dem irgendwann auch wieder Geld in die Kassen zurückfließt. "Da machen viele lieber Geldgeschenke, die aber häufig keinen Fortschritt bewirken", urteilt Habschick.

Nicht umsonst hat der Bürgermeister von Paris Delanoë seiner öffentlichwirksamen Initiative ein Wappentier geschenkt: Eine hart arbeitende Ameise ziert die Infoblätter der Mikrokredite.