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Politik

Missstände bei NGOs - ein Widerspruch?

Helena Kaschel
1. Juni 2019

Amnesty International zieht nach einem Gutachten über sein "toxisches" Arbeitsklima Konsequenzen. Der Fall ist keine Ausnahme. Humanitäres Engagement unter unwürdigen Arbeitsbedingungen - wie passt das zusammen?

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Demonstranten von Amnesty International protestieren am Internationalen Frauentag in Paris vor der saudi-arabischen Botschaft
Protest von Amnesty-Aktivisten am Weltfrauentag vor der saudischen Botschaft in ParisBild: Reuters/File Photo/B. Tessier

Eine Organisation, die sich für das Gute in der Welt einsetzt, macht Negativschlagzeilen - wieder einmal. In dieser Woche wurde bekannt, dass Amnesty International seine Führungsspitze auswechselt. Generalsekretär Kumi Naidoo ließ verkünden, dass fünf der sieben Mitglieder der Generaldirektion bis Oktober zurücktreten werden.

Hintergrund ist ein unabhängiger Bericht, der von der in London ansässigen Menschenrechtsorganisation in Auftrag gegeben wurde, nachdem sich im vergangenen Jahr sowohl ein langjähriger Mitarbeiter als auch eine Praktikantin das Leben genommen hatten. In einem Abschiedsbrief soll der Mann von unerträglichem Arbeitsdruck gesprochen haben. Bereits vor der Veröffentlichung des Gutachtens im Februar hatte Naidoo Konsequenzen angekündigt. 

In dem Report ist von einem "toxischen" Arbeitsklima die Rede, das von außergewöhnlichem Stress, "Mobbing und öffentlicher Demütigung als Führungsinstrument", Misstrauen, geringer Wertschätzung und einer Wir-gegen-die-Dynamik zwischen Angestellten und Führungskräften geprägt sei. Mitarbeiter hätten zudem über Machtmissbrauch und Diskriminierung berichtet. Fast 40 Prozent der 475 Befragten gaben an, aufgrund ihrer Arbeit bei Amnesty psychische oder physische Probleme entwickelt zu haben. Etwaige Bemühungen der Organisation, das Wohlbefinden der Mitarbeiter zu verbessern, seien "ad hoc, reaktiv und punktuell" gewesen.

Interne Missstände zunehmend im Fokus

Amnestys interne Probleme mögen extrem sein - doch auch andere Nichtregierungsorganisationen (NGOs) stehen in der Kritik.

Kumi Naidoo
Will das Wohlbefinden seiner Mitarbeiter zur Priorität machen: Amnesty-Generalsekretär Kumi NaidooBild: Getty Images for Shared Interest/B. Gabbe

In einem im Januar veröffentlichten unabhängigen Zwischenbericht über die Arbeitsbedingungen bei der britischen NGO Oxfam ist ebenfalls von einem toxischen Umfeld die Rede - Mitarbeiter hätten unter anderem über Rassismus, Elitismus, Mobbing und starre Hierarchien geklagt. Im Oktober erschien ein unabhängiges Gutachten über die Arbeitsverhältnisse bei der ebenfalls britischen Hilfsorganisation Save the Children. 28 Prozent der Befragten gaben demnach an, innerhalb der vergangenen drei Jahre Opfer von Belästigung oder Diskriminierung geworden zu sein.

"Was mich oft verwirrt hat, war die Diskrepanz zwischen dem Image der Organisationen, für die ich gearbeitet habe, und der vergifteten Atmosphäre dort", schrieb die britische Journalistin und frühere Entwicklungshelferin Shaista Aziz im vergangenen Sommer in der Zeitung "The Guardian". Während ihrer Zeit als humanitäre Helferin sei sie "einigen der schlimmsten Formen von Rassismus, Sexismus und sexueller Belästigung ausgesetzt" gewesen. Zu lange hätten sich Hilfsorganisationen "auf ihr wohltätiges Bild in der Welt konzentriert, ohne auf ihre Schattenseiten eingehen zu wollen."

"Das Schlimmste zu sehen, hat einen hohen Preis"

Dass ausgerechnet bei Hilfsorganisationen zum Teil problematische Arbeitsbedingungen herrschen, kann viele Gründe haben. Einige liegen möglicherweise im Wesen der humanitären Arbeit selbst. Wer dauernd mit Gräueltaten konfrontiert ist, läuft Gefahr, eine "sekundäre Traumatisierung" zu erleiden, wie es in dem Gutachten für Amnesty heißt. "Jeden Tag das Schlimmste zu sehen, was Menschen einander antun können, hat einen hohen Preis", wird darin jemand zitiert. "Ich begann, Albträume zu haben, in denen ich mich unsicher fühlte, gefoltert oder getötet wurde."

Auch wenn diese Art von Stress zum Berufsrisiko gehört: Wer regelmäßig etwa mit Protokollen über Folter arbeitet, brauche soziale Unterstützung, sagt Maggie Schauer. Sie leitet das Kompetenzzentrum Psychotraumatologie der Universität Konstanz. Helfer zeigten sich ungern verletzlich und vertrauten sich im Zweifel eher Menschen auf Augenhöhe an als etwa externen Supervisoren. Wichtig sei deshalb "ein Umfeld, das sehr gut zusammenarbeitet, Kollegen, die sich gegenseitig unterstützen" Das Arbeitsklima müsse zudem "besonders viel Wertschätzung aufweisen", so die Traumaforscherin. Genau das scheint bei Amnesty und anderen Hilfsorganisationen nicht immer der Fall zu sein.

Während die Angebote für humanitäre Helfer mit direkter Traumatisierung "sehr weit entwickelt" seien, sei das Bewusstsein für indirekte Traumatisierung möglicherweise "noch nicht ausreichend verbreitet”, sagt Heike Spielmans, Geschäftsführerin des Verbands für Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe (VENRO), der die Interessen von rund 140 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Deutschland vertritt.

"Märtyrerkult” und "Overcommitment"?

Dass massiver Stress auch die Folge eines Idealismus sein könnte, den viele humanitäre Helfer mitbringen, hält Spielmans für denkbar. So wird in dem Gutachten für Amnesty ein Teammitglied zitiert, das von einem "Märtyrerkult" bei der Organisation spricht. Menschen, die ihren Beruf mit großer Überzeugung ausübten, müsse man "manchmal vor sich selbst schützen", sagt Spielmans. "Das ist auch Aufgabe der Führungskräfte. Gerade bei jungen Leuten kann das manchmal dazu führen, dass sie nicht genug auf sich achten."

Ähnlich sieht es auch der Arbeits- und Organisationspsychologe Wladislaw Rivkin von der Aston University in Birmingham - und verweist auf das Phänemen des "Overcommitment", "eine übermäßige Bindung an die Organisation, bei der sich Individuen ausbeuten. Sollte dies auftreten, können wir in der Tat negative Effekte auf psychische Gesundheit erwarten."

Immer wieder: Macht

Ein Begriff, der in den Untersuchungen über die Arbeitsverhältnisse bei Amnesty, Oxfam und Save The Children auffällig häufig fällt, ist Macht: "Machtmissbrauch", "Machtgefälle", "negative Macht-Dynamiken" - Phänomene, deren Existenz in der Kirche, in der Politik, in der Wirtschaft und in Vereinen schon lange bekannt sind. Dass Nichtregierungsorganisationen aufgrund ihrer wichtigen Arbeit als moralische Instanzen gelten, macht sie offenbar nicht gegen derartige Probleme immun.

Infografik Die fünf größten Hilfsorganisationen in GB und Deutschland DEU

"Grundsätzlich muss man sagen, dass die Mitarbeitenden in Hilfsorganisationen inklusive der Führungskräfte per se nicht bessere Menschen sind als andere", gibt VENRO-Chefin Spielmans zu bedenken. "Ich glaube, dass es viele Themen gibt, bei denen die NGOs in ihrer eigenen Arbeit schauen müssen, ob das, was sie von anderen einfordern, bei ihnen selbst umgesetzt wird.” Eine große Verantwortung liege auch hier bei den Führungskräften. "Eine Organisationskultur zu schaffen, die etwa auf Achtsamkeit beruht, ergibt sich nicht von selbst - auch nicht bei Menschen, die im NGO-Bereich arbeiten."

Problematisch sei allerdings, dass viele Hilfsorganisationen aufgrund ihrer Abhängigkeit von Spendeneinnahmen unter dem Druck stünden, die Verwaltungskosten niedrig zu halten. So gebe es wenig finanziellen Spielraum, um etwa Fortbildungen für Mitarbeiter anzubieten.

Flucht nach vorn

Immerhin: Mit der Flucht nach vorn - der Beauftragung von unabhängigen Untersuchungen - sind Hilfsorganisationen einen ersten Schritt Richtung mehr Transparenz gegangen. VENRO hat 2018 einen für seine Mitglieder verbindlichen Verhaltenskodex verabschiedet. Darin wird unter anderem der Einsatz von neutralen Ombudspersonen empfohlen, an die Mitarbeiter sich wenden können. Die Nichtregierungsorganisationen verpflichten sich insgesamt, "ein Umfeld zu schaffen, in dem Missbrauch von anvertrauter Macht effektiv vorgebeugt und bekämpft wird".

Auch das Beratungsunternehmen, das mit dem Amnesty-Bericht beauftragt war, hat zahlreiche Maßnahmen zur Verbesserung der Situation vorgeschlagen. "Das Wohlbefinden unserer Belegschaft ist nun unsere oberste Priorität und wird künftig im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen”, schrieb Amnesty-Generalsekretär Naidoo im Januar.

Sollte es tatsächlich so kommen, könnten andere Branchen von den Hilfsorganisationen demnächst viel lernen.