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Mit den Fingern lesen

Gudrun Heise Michael Gessat
4. Januar 2017

Die Finger flitzen über das Papier wie über eine Tastatur und erfassen blitzschnell die einzelnen kleinen Erhebungen und deren Bedeutung. Die meisten Blinden beherrschen Braille genauso wie Sehende die Buchstaben.

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Symbolbild Blindenschrift
Bild: picture-alliance/blickwinkel/McPhoto

Ein Gegenstand für eine kleine Brailleschrift-Übung findet sich in fast jedem Haushalt: Wer nämlich eine Arzneimittelpackung in der Hausapotheke liegen hat, kann die Sache direkt einmal ausprobieren und nach einer Stelle suchen, an der ein paar kleine Noppen in den Karton geprägt sind. Mit den Fingern geht das schneller als mit dem Auge.

Und das soll man lesen können?

Die Stelle auf der Schachtel per Tastsinn zu finden, ist noch leicht. Aber auch noch zu fühlen, wie viele Noppen es sind oder wie die Erhebungen angeordnet sind - da müssen die meisten Sehenden kapitulieren. Alles halb so schlimm, versichert Eskandar Abadi, Sprachwissenschaftler und Redakteur bei der Deutschen Welle. Das Ertasten der Zeichen sei Übungssache - und die Brailleschrift schlichtweg genial: "Da ist ein sehr durchdachtes System in dieser Codierung drin."

Sechs Punkte, 64 Kombinationsmöglichkeiten

Louis Braille Entwickler der Blindenschrift
Louis Braille wurde am 4. Januar 1809 geboren. Am 6. Januar 1852 ist er in Paris verstorben.Bild: picture-alliance / dpa

Louis Braille hat die Blindenschrift erfunden. Geboren ist er am 4. Januar 1809 in Coupvray bei Paris. Der 4. Januar wurde ihm zu Ehren zum Welt-Braille-Tag ausgerufen. Bei dieser Art zu schreiben, wird jedes Zeichen durch ein Raster aus sechs Punkten dargestellt - drei in der Höhe und zwei in der Breite, also sechs Positionen, an denen entweder eine Erhebung sein kann oder eben keine. Das macht insgesamt 64 Kombinationsmöglichkeiten. Die Brailleschrift ist keine eigenständige Sprache; sie codiert die Zeichen, die in einer Sprache vorkommen. Und deshalb gibt es die ursprüngliche Fassung für lateinische Buchstaben, aber auch Versionen für Russisch, Chinesisch und Persisch.

Lesen lernen mit den Fingern

Persisch ist die Muttersprache von Eskandar Abadi: "Ich komme aus dem Iran und habe die Brailleschrift auch im Iran gelernt. Ich war dort in einem Blindenheim einer deutschen Blindenmission." In der Christoffel-Blindenmission nämlich; deren Gründer Pastor Ernst Jakob Christoffel hatte die persische Version der Brailleschrift entwickelt und im Iran eingeführt.

Geschwindigkeit ist keine Hexerei

Eskandar Abadi ist von Geburt an blind und hat die Brailleschrift als Kind gelernt. Wenn er liest, ob auf Persisch oder auf Deutsch, dann sausen seine Zeigefinger über die Zeile mit den Punkten, die rechte Hand voran, die linke quasi zur Kontrolle hinterher. Wie bei Sehenden gibt es auch unter Blinden schnellere und langsamere Leser. Und wie bei anderem Lernstoff auch geht einem älteren Menschen das Studieren vielleicht nicht mehr ganz so leicht von der Hand wie einem jüngeren.

Zum Braille-Lernen ist es nie zu spät

Kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen, erinnert sich Renate Reymann, die Präsidentin des "Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes" (DBSV). Sie gehört zu den sogenannten Späterblindeten und hat ihr Augenlicht erst in der Mitte des Lebens allmählich verloren. "Ich habe die Punktschrift dann bei dem Blindenverein in Mecklenburg-Vorpommern erlernt. Das war für mich noch einmal als wenn ich mit sechs Jahren in die Schule gekommen wäre." Da seien die Erinnerungen sofort wieder wach geworden: "Wie man schon als kleines Schulkind geschwitzt hat, wenn man ein Wort zusammen gefügt hat, die einzelnen Buchstaben aneinandergereiht hat, und manchmal am Ende gar nicht wusste, was das eigentlich für ein Wort ist."

Brailletastatur
Eine Brailletastatur unter einer Computertastatur. Die Zeichen werden durch bewegliche Metallstifte erzeugt.Bild: picture-alliance/dpa/K.-D. Gabbert

Brailleschrift bleibt unverzichtbar - trotz Computer

Inzwischen liest Renate Reymann Brailleschrift schnell und flüssig. "Die Alphabetisierung brauchen wir blinden Menschen genauso wie die sehenden Menschen, und ich könnte mir für mich ein Leben nur über das Hören gar nicht vorstellen." Das gilt nicht nur für die Teilnahme am Berufsleben oder den Zugang zu Bildung und Literatur, zu Information und Unterhaltung. Es geht auch um die Möglichkeit, ein selbstbewusstes Leben ohne die ständige Hilfe von Dritten zu führen: "Die Brailleschrift benötige ich ja auch für die Orientierung, wenn ich mal an Dinge in der Küche denke, wenn ich mir da die Gewürze kennzeichne - oder meine CD-Sammlung. Wie will ich das über das gehörte Wort machen?"

An Blinde richtet sie deshalb den Appell: "Lernt die Punktschrift, sie bringt euch etwas." Und auch an Sehende wendet sich Reymann und will signalisieren: "Schaut, das ist eine ganz wichtige Schrift! Die brauchen wir trotz aller Computertechnik, trotz der E-Bücher und was es alles auf dem Markt gibt."

Kant lesen, Harry Potter hören

Das sieht auch Eskandar Abadi so, auch wenn er virtuos mit der modernen Technik an seinem Arbeitsplatz umgeht, mit der Braille-Zeile unterhalb der Computertastatur, mit dem Screen-Reader, der ihm Internet-Webseiten vorlesen kann. "Ich höre mir zum Beispiel vieles an, was meine komische Sprachausgabe mir erzählt, aber da, wo ich sichergehen muss - da, wo es unbedingt bleibend da sein soll - da lese ich Braille." Wenn er Kant liest, dann mit den Fingern. Harry Potter dagegen eher per Sprachausgabe oder Hörbuch, sagt Abadi: "Wenn meine Tochter mich genug gezwungen hat."