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Mit der Todesstrafe auf Stimmenfang

Thomas Seibert15. November 2012

Der türkische Ministerpräsident hat eine Debatte über die Wiedereinführung der Todesstrafe losgetreten. Hintergrund dürfte wohl die Präsidentschaftswahl in zwei Jahren sein.

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Ein Galgen (Foto: Roland Weihrauch dpa/lnw)
Wird die Türkei die Todesstrafe wieder einführen?Bild: picture-alliance/dpa

Auslöser für die Initiative des Ministerpräsidenten war die nach Erdogans Meinung sehr milde Strafe für den norwegischen Rechtsterroristen Anders Bering Breivik. Wie könne es angehen, dass jemand nach der Ermordung von 77 Menschen lediglich 21 Jahre ins Gefängnis müsse, fragte Erdogan bei einer Veranstaltung während eines Besuches in Indonesien Anfang November. Er verwies darauf, dass Länder wie die USA, Japan und China nach wie vor die Todesstrafe verhängen. Auch die Türkei sollte über dieses Thema neu nachdenken.

Die Abgeordneten der nationalistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) erheben die Arme, um am 2.8.2002 im türkischen Parlament in Ankara gegen die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten zu stimmen (Foto: DW)
Das türkische Parlament hat die Todesstrafe 2002 abgeschafft - auch mit den Stimmen der nationalistischen Partei MHPBild: picture-alliance/dpa

Nach seiner Rückkehr nach Ankara bekräftigte Erdogan seine Ansichten, die in der türkischen Hauptstadt Freund und Feind gleichermaßen verwirrten. Erst Ende Oktober hatte der Premier bei seinem Besuch in Berlin das starke Interesse der Türkei an einem möglichst raschen EU-Beitritt bekundet - doch die EU-Mitgliedschaft hätte sich automatisch erledigt, wenn Erdogan die Todesstrafe wieder einführen sollte. Das weiß der Ministerpräsident natürlich auch.

Erklärungsversuche der Erdogan-Getreuen

Erdogans plötzliches Eintreten für die Todesstrafe zwang seine Getreuen im Kabinett und in der Regierungspartei AKP zu mehr oder weniger eleganten Erläuterungsversuchen. Außenminister Ahmet Davutoglu sagte, der Ministerpräsident habe sich lediglich über den Fall Breivik aufgeregt. Aus der AKP verlautete, Erdogan habe einen Appell an die EU richten wollen, angesichts von Mördern wie Breivik einmal darüber nachzudenken, ob eine generelle Absage an die Todesstrafe wirklich sinnvoll sei.

Türkischer Premierminister Tayyip Erdogan (Foto: REUTERS/Umit Bektas)
Tayyip Erdogan braucht die Stimmen vom rechten RandBild: REUTERS

Konkrete Arbeiten an einem Gesetzentwurf, um Erdogans Vorstellungen in die Praxis umzusetzen, gibt es aber nicht. Justizminister Sadullah Ergin sagte in den Haushaltsberatungen des Parlaments, nach der offiziellen Abschaffung der Todesstrafe durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2002 sei diese Reform zwei Jahre später in der Verfassung verankert worden - und zwar auf Initiative der Erdogan-Regierung. In seinem Haus gebe es derzeit keinerlei Vorbereitungen für eine Verfassungs- oder Gesetzesänderung, die dies wieder rückgängig machen würde.

Nationalistische Wähler im Blick

Hat sich Erdogan also vergaloppiert? Die meisten Beobachter in Ankara sind sich sicher, dass der ausgefuchste Taktiker das Thema Todesstrafe nicht ohne Grund auf die Tagesordnung gebracht hat. Der frühere Parlamentsabgeordnete Mehmet Bekaroglu spricht aus, was viele denken: Ziel Erdogans sei es, sich bei der Präsidentenwahl 2014 die Stimmen rechtsnationaler Wähler zu sichern, sagte Bekaroglu der Zeitung "Evrensel".

Eine Versamlung der Partei der Nationalen Bewegung (MHP) (Foto: AP Photo/Burhan Ozbilici)
Die Partei der Nationalen Bewegung (MHP) ist wichtiger politischer Faktor in der TürkeiBild: AP

Dass der Ministerpräsident in zwei Jahren das höchste Staatsamt anstrebt, ist ein offenes Geheimnis. Da die allermeisten Wähler in der Türkei rechts der Mitte stehen, ist für die Direktwahl des Präsidenten dieses Wählersegment besonders wichtig. Den Nationalisten ein wenig entgegenzukommen, ist aus Erdogans Sicht also sinnvoll.

Rechtsnationalisten nehmen Erdogan beim Wort

Das Thema Todesstrafe wird in der Türkei vorwiegend im Zusammenhang mit dem inhaftierten kurdischen Rebellenchef Abdullah Öcalan diskutiert. Die 1999 gegen Öcalan ausgesprochene Todesstrafe wurde nach ihrer Abschaffung im Jahr 2002 in eine lebenslängliche Haftstrafe umgewandelt. Die rechtsnationale Partei MHP erklärte deshalb, Erdogan wolle bei rechten Wählern jenen Schaden wieder gutmachen, den er selbst mit Friedensgesprächen zwischen dem Staat und Öcalans PKK-Rebellen angerichtet habe. Die Verhandlungen waren 2011 abgebrochen worden, könnten nach Erdogans Worten bei Bedarf aber wieder aufgenommen werden.

Eine kurdische Flagge mit dem Portrait von Abdullah Öcalan (Foto: AFP PHOTO/ Louisa Gouliamaki)
Rechte Nationalisten in der Türkei wollen den PKK-Chef Abdullah Öcalan hängen sehenBild: AFP

Die MHP will nun alles tun, um Erdogans taktische Manöver als inhaltsleer zu entlarven. MHP-Chef Devlet Bahceli rief den Ministerpräsidenten auf, einen Gesetzentwurf für die Todesstrafe vorzulegen. Seine Partei werde im Parlament einen solchen Entwurf unterstützen, sagte Bahceli.

Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass Erdogan darauf eingeht. Der Premier macht sich auch offenbar keine große Sorgen darüber, von den Nationalisten als Heuchler dargestellt zu werden. Schließlich kann Erdogan auf eine Tatsache hinweisen, die der MHP äußerst unangenehm ist: Die Rechtspartei war Mitglied jener Regierungskoalition, die 2002 die Abschaffung der Todesstrafe beschloss - die entsprechende Entscheidung trägt die Unterschrift von Devlet Bahceli.