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Mit wenig Taktik zu vielen Titeln

Philip Verminnen (ptg.) / Jan D. Walter (dt.)6. Juni 2014

Brasilien ist bekannt für seine großartigen Fußballer. Fußball als Rasenschach ist nicht gerade die Philosophie des Rekordweltmeisters. Dabei haben die taktischen Clous der Seleção beträchtlichen Anteil am Erfolg.

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Fußballfeld mit Kreide (Foto: fotolia/mirpic)
Bild: Fotolia/mirpic

Schon immer waren die brasilianischen Nationalmannschaften gespickt mit Ausnahmespielern. Vor allem ihre fabelhafte Ballbehandlung ist in anderen Ländern sprichwörtlich. "Brasilianisch" spielt, wer trickreich, technisch ausgereift und leichtfüßig den Gegner überwindet. So überrascht es kaum, dass acht der 23 Weltfußballer des Jahres, den die FIFA seit 1991 kürt, Brasilianer waren. Platz zwei dieser Rangliste belegt Frankreich mit dreimal Zinédine Zidane, der als kleiner Junge bei den nachgespielten WM-Turnieren auf den Straßen von Marseille immer Brasilien sein wollte.

Das internationale Interesse an taktischen Innovationen aus Brasilien grenzt dagegen an Gleichgültigkeit. Gerade einmal zwei brasilianische Trainer haben einigermaßen erfolgreich europäische Teams trainiert: Otto Gloria in den 60er-Jahren und Luiz Felipe Scolari 2006. Beide erreichten mit Portugal das Halbfinale einer WM.

Aber natürlich können auch die begnadetsten Kicker der Welt ohne eine feste Rollenverteilung auf dem Feld keinen Weltmeistertitel gewinnen - geschweige denn fünf.

Anfänge der Raumdeckung

Bei den ersten Weltmeisterschaften in den 30er-Jahren verfolgte Brasilien noch das damals gängige 2-3-5-System mit zwei Verteidigern, drei Mittelfeld- und fünf Offensivspielern. Weltmeister wurden Italiener und Uruguayer, die sich schon damals mit vier oder sogar fünf Mittelfeldspielern als stärker aufgestellt erwiesen.

Nach dem Krieg gab es dann einen in der Fußball-Geschichte unvergleichlichen Reichtum an Varianten. Allgemein wurde das Spiel defensiver. Ungarn dominierte in Europa mit einem flexiblen 4‑2‑4-System, England besann sich auf das von Herbert Chapman in den 20er-Jahren ersonnene WM System, einer 3-2-5-, beziehungsweise 3-4-3-Formation. Die Gastgeber der WM 1954 spielten unter dem Österreicher Karl Rappan den "Schweizer Riegel", der als Urvater des italienischen Abwehrbollwerks "Catenaccio" gilt.

WM 2006 Deutschland gegen Portugal (Foto: picture-alliance/dpa)
Brasiliens Nationalmannschaft 1970: "Die beste Seleção, die wir je hatten", meint Mario ZagalloBild: picture-alliance/dpa

Gemeinsam war all diesen Strategien die Grundidee der Mann-gegen-Mann-Verteidigung. In dieser Zeit ersann Zezé Moreira, Teamchef der 54er-Nationalmannschaft aus Brasilien, die Raumdeckung. Statt jedem Mann einen Gegenspieler zuzuordnen, lies Moreira sein Mittelfeld auf einer Linie agieren, um die Räume dicht zu machen. Zum Turniersieg reichte das jedoch nicht. Brasilien schied im Viertelfinale in der "Schlacht von Bern" gegen Ungarn aus.

Anfänge des modernen Fußballs

Den lange ersehnten Titel holte dann Vicente Feola vier Jahre später in Schweden. Auf dem Papier imitierte sein Team das 4-2-4 der Ungarn. Doch in der praktischen Umsetzung schuf seine Mannschaft das bis heute moderne 4-4-3-System.

Mario Zagallo, der damals seinen ersten Titel als Spieler gewann, erklärte die 58er-Taktik einmal so: "In Ballbesitz war ich eine hängende Spitze, konnte aber auch Nilton Santos (in der Verteidigung, d. R.) ersetzen. In der Defensive half ich Nilton den Mittelstürmer zu doppeln oder half Zito und Didi im Mittelfeld aus."

Mario Zagallo mit WM-Pokalen (Foto: picture-alliance/dpa)
Mario Zagallo mit den beiden FIFA-Pokalen, die er insgesamt viermal gewonnen hatBild: picture-alliance/dpa

Futebol total

Derselbe Zagallo revolutionierte die Fußballtaktik bei der WM 1970 in Mexiko - diesmal als Trainer. Er hatte die Mannschaft kurzfristig übernommen und befand sich in der schwierigen Situation, fünf Mittelfeldstars in der Mannschaft gerecht werden zu müssen: Clodoaldo, Gérson, Rivellino, Jairzinho und Pelé. Die komplexen Laufwege, mit denen sie angriffen und in der Verteidigung die Räume dicht machten, nahmen in gewisser Weise den "Totalen Fußball" der niederländischen Nationalmannschaft von 1974 vorweg. Und Kapitän Carlos Alberto Torres erfand mit seinen Flügelläufen die Position des modernen Flügelspielers.

"Die Mannschaft von 1970 war aufgrund ihrer Taktik die beste, die wir je hatten", findet ihr Trainer Mario Zagallo, "aber das war nur möglich, weil sie aus extrem intelligenten Spielern bestand."

Wiederentdeckung des 4-4-2

Auf den Titel 1970 folgte die bisher längste Durststrecke für die Seleção. Sie endete erst 1994 in den USA, als Carlos Parreira, mit Zagallo als Co-Trainer, das klassische 4-4-2 reaktivierte, mit dem die Engländer 1966 die WM im eigenen Land gewonnen hatten. Das System galt in verschiedenen Varianten bis weit über das Jahr 2000 hinaus als Inbegriff des modernen Fußballs und bildete auch die taktische Basis der siegreichen Spanier bei der letzten WM 2010 in Südafrika.

Für ihren Titelgewinn 2002 besannen sich die Brasilianer wiederum auf ein eigentlich veraltetes System. Dem 3-5-2, mit dem Argentinien und Deutschland die späten 80er-Jahre beherrschten, fügte Luiz Felipe Scolari die Finesse hinzu, dass sich die Formation in der Verteidigung in ein 5-4-1 verwandelte. Ähnlich aufgestellt gewann Italien 2006 den Titel in Deutschland.

Fußball-WM 1970 Brasilien (Foto: picture-alliance/dpa)
Luiz Felipe Scolari (r.) und Jürgen Klinsmann als Trainer von Portugal und Deutschland bei der WM 2006Bild: picture-alliance/dpa

Zum sechsten Titel

Dass offensive Mittelfeldspieler in der Verteidigung mit nach hinten arbeiten, ist aus dem modernen Fußball nicht mehr wegzudenken. 2010 war 4-2-3-1 das weitaus verbreitetste System, das defensiv ein 4-5-1 ist, und bei dem sich selbst der eine Angreifer oft am Vorchecking in der gegnerischen Hälfte beteiligt.

Dies war auch die Aufstellung, mit der die Brasilianer den Confederations Cup 2013 gewannen. Bei der WM 2014 darf man auf einer Fülle taktischer Formationen gespannt sein. Dann wird sich zeigen, ob Brasilien erneut mit einem aufgewärmten System erfolgreich ist.