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Beethoven-Konzert für Zugfahrer

Philipp Jedicke
7. März 2020

Das Projekt "Moving Landscapes" will dem Zugreisen seine Magie zurückgeben. An der außergewöhnlichen Aktion sind Medienkünstler und zahlreiche Musikerinnen und Musiker beteiligt. Auch Beethoven spielt dabei eine Rolle.

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Im Vorbeifahren: Ein Feld mit einem Mann, der aufgrund der Geschwindigkeit unscharf und verzerrt ist
Das Land rauscht nur so vorbei. Symbolbild aus dem Vorgängerprojekt "Bewegtes Land"Bild: Datenstrudel

Als ihm die Idee zu "Moving Landscapes" kam, saß Jörn Hintzer selbst in einem Zug. Er blickte aus dem Fenster in die vorbeifliegende Landschaft, und plötzlich hatte er eine Eingebung: Er sah vor seinem geistigen Auge einen "teuflischen Derwisch, und der tat irgendetwas Unanständiges auf einem Balkon". Obwohl der Derwisch nur eine Kopfgeburt Hintzers war, bedingt durch die schnelle Vorbeifahrt, beeindruckte ihn dieses Bild, denn es hatte absolut nichts mit dem Innenleben des Zugs zu tun. "Diese gedämpfte Atmosphäre, alle gucken auf ihre Excel-Tabellen und haben Folie auf den Monitor gelegt, damit keiner von links und rechts reingucken kann, was man für einen Netfilx-Film guckt. Keiner redet."

Ein Hammer und ein Beil liegen auf einer Beethoven-Partitur im Rahmen des Projekts "Moving Landscapes"
Zwei der "Musikinstrumente", die bei "Moving Landscapes" verwendet werdenBild: Datenstrudel

Diese Tendenz zur Vereinzelung durch Tablets, Laptops und Smartphones, aber auch die bewusste Abkehr von der Welt "da draußen" vor dem Zugfenster,  schockte Hintzer. Kamen ihm nicht selbst oft die besten Ideen beim sinnierenden Aus-dem-Fenster-Schauen? In diesem Moment hatte er die Idee für "Moving Landscapes". Dahinter steckt die Idee, dass man alles vor dem Zugfenster wie eine Bühne betrachten kann, auf der etwas Einmaliges passiert. Etwas, das sich mit einem Smartphone-Foto nicht abbilden lässt. 

Medienkunst-Duo Datenstrudel

Jörn Hintzer und Jakob Hüfner sind Professoren für Crossmediales Bewegtbild an der Bauhaus-Akademie in Weimar. Unter dem Namen "Datenstrudel" machen sie gemeinsam Medienkunst. 2017 haben sie mit ihrem Projekt "Bewegtes Land - Inszenierungen für vorbeifahrende Züge" bereits für Aufsehen gesorgt. Jetzt starten sie mit "Moving Landscapes" eine Fortsetzung, die für Abwechslung während der Zugfahrt sorgen soll: Geplant ist das erste Konzert für vorbeifahrende Züge, entlang des "längsten Orchestergrabens der Welt."

Angler in einem Fluss, aus dem ein künstlicher weißer Hai mit aufgerissenem Maul aufsteigt
Schon beim Datenstrudel-Vorgängerprojekt "Bewegtes Land" spielte sich Überraschendes entlang einer Bahnstrecke abBild: DW/J. Linke

Entlang der circa 22 Kilometer langen Bahnstrecke von Jena nach Weimar werden einzelne Instrumentalisten, Musikgruppen, Chöre und Sänger stehen - in Feldern, auf Wegen, auf einer Hebebühne über den Baumwipfeln oder auf Hausdächern. Gemeinsam werden sie die "Ode an die Freude" aus Beethovens Neunter Sinfonie anstimmen. Der Dirigent Martijn Dendievel ist der musikalische Leiter von "Moving Landscapes" und hat Beethovens Orchesterwerk eigens für das Projekt und die Laienmusiker adaptiert. Der jeweilige Part wird als lokal begrenztes Radiosignal ins Innere des Zugs übertragen, wo die Zugreisenden mithilfe von batteriebetriebenen Radios der facettenreichen Interpretation lauschen können, während sie dabei den jeweiligen Interpreten sehen. 

"Aberwitziger Versuch" der Kontaktaufnahme

Durch die analoge Technik der Radios und der UKW-Wellen solle laut Datenstrudel die "basale Verbindung von Musik und Mensch" verstärkt werden. Und tatsächlich: Das Radiosignal gibt es nur in diesem einen Moment, auf einer Gesamtlänge von 2,5 Kilometern. Es ist nicht reproduzierbar und hinterlässt keine Spuren. Nach nur einer Minute wird das aufwändig geplante Konzert vorbei sein. Warum all die Mühe für diesen einen kurzen Moment? Das Ganze sei der "aberwitzige Versuch, in Kontakt zu treten", so Hintzer. Das Zugfahren werde für kurze Zeit wieder ein gemeinsames Erlebnis und verbinde Stadt und Land. Ziel sei es, dem Land, das sonst nur vorbeirausche, "eine Stimme" zu geben.

Ein tragbares Grundig-Radio aus dem Projekt "Moving Landscapes"
Echt analog: eines der vielen Radios aus dem Projekt "Moving Landscapes" Bild: Datenstrudel

Nicht umsonst hat sich das Datenstrudel-Duo für Ludwig van Beethoven entschieden. Denn mit der "Ode an die Freude" teilen sich der Komponist Ludwig van Beethoven und der Dichter Friedrich Schiller den Glauben an das Gemeinsame, das Verbindende zwischen den Völkern. Datenstrudel wollen ein gemeinschaftliches Spektakel schaffen in "einer Welt, die in Blasen zersplittert", wie es Hintzer formuliert. 

Veränderung des Reiseverhaltens

Datenstrudel treffen mit ihrem Projekt einen Nerv, denn sowohl die Motivation für eine Reise als auch deren Durchführung hat in den letzten Jahrzehnten große Veränderungen durchgemacht. Von dem altbekannten Reisemotto "Der Weg ist das Ziel" ist im Zeitalter von Billigfliegern, Shopping-Trips in angesagte Metropolen und Büchern wie "1000 Orte, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt" wenig übrig geblieben. Die Welt als To-Do-Liste, das Reisen als Mittel zum Zweck. "Schon der Philosoph Montaigne schrieb im 16. Jahrhundert: 'Ich bin unterwegs, um unterwegs zu sein'", sagt Rainer Wieland. Der Autor und Herausgeber hat vor einigen Jahren "Das Buch des Reisens: Von den Seefahrern der Antike zu den Abenteurern unserer Zeit" veröffentlicht, eine Sammlung von Reiseberichten aus mehreren Jahrhunderten. 

Rainer Wieland deutscher Autor und Herausgeber
Rainer Wieland, Autor und HerausgeberBild: Barbara Dietl

Das Reise-Ideal unserer Zeit scheint es zu sein, möglichst schnell anzukommen. "Wir sind heute der irrigen Annahme, dass die Reise dann beginnt, wenn wir am Zielort eintreffen und nicht zu dem Zeitpunkt, wenn wir von zu Hause aufbrechen. Dadurch, dass uns der Weg zum Ziel so einfach gemacht wird, verlieren wir das Sensorium dafür, was es eigentlich bedeutet, unterwegs zu sein, was doch das Wesen einer Reise ausmacht".

Entscheidend für unsere heutige Zeit sei auch, dass wir dank Fotografie und Internet bereits die Bilder im Kopf haben, die wir ja eigentlich entdecken wollen. "Wir denken, wir wissen, wie der Ort aussieht, an den wir reisen. Wir können uns mithilfe des Internets so gut vorbereiten. Aber wenn wir bei einer Reise überhaupt keine Überraschung mehr zulassen wollen und das alles ganz genau durchplanen wollen, dann wird die Reise im Zweifelsfall auch ziemlich langweilig werden." Genau dieser Art von Langeweile wollen Datenstrudel mit ihrer Zuginszenierung entgegenwirken. 

 

"Moving Landscapes" findet im Beethoven-Jubiläumsjahr im Rahmen von "Der Klang von Jena: Beethoven und unsere Umwelt" der Jenaer Philharmonie am 7. März 2020 von 13 bis 16 Uhr an der Zugstrecke zwischen Weimar und Jena statt. Insgesamt gibt es zwölf Aufführungen für zwölf Züge. Das Projekt wird gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Kulturstiftung Thüringen und durch die Impulsregion e.V.