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Multikulti ist erlaubt

Peter Philipp11. Oktober 2002

Drei Jahre lang musste eine junge Türkin gegen eine Kündigung prozessieren, die sie wegen des Tragens eines Kopftuches bei der Arbeit erhalten hatte. Nun erhielt sie Recht.

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Und Deutschland ist doch eine multikulturelle Gesellschaft! Was hat man sich doch in den letzten Jahren über diese Frage die Köpfe heiß geredet, nur um sie dann wieder in den Sand zu stecken. Um nicht zu sehen, was nur allzu offensichtlich ist, wenn inzwischen über sieben Millionen Menschen fremder Herkunft unter uns leben.

Dass nun doch eine realistische Einschätzung der Lage zum Durchbruch gelangte, ist einer jungen türkischen Kosmetik-Verkäuferin eines Kaufhauses im Hessischen zu verdanken und dem Bundesarbeitsgericht in Erfurt: In allen Instanzen über drei Jahre hinweg hatte sie verloren – bis das Bundesarbeitsgericht einen ebenso klaren, mutigen wie auch Aufsehen erregenden Spruch fällte: Die Kündigung sei unzulässig gewesen, denn das Recht der Frau auf Religionsfreiheit sei wichtiger als das Recht des Arbeitgebers auf unternehmerische Freiheit.

Das kleine Kaufhaus hatte argumentiert, eine Verkäuferin mit Kopftuch würde die Kunden verschrecken und es müsse mit Einnahmeverlusten rechnen. Und das, obwohl die Verkäuferin bereits zehn Jahre lang zur vollen Zufriedenheit in der Firma gearbeitet hatte. Angeblich "untragbar" wurde sie für den Laden erst, als die Muslimin aus religiösen Gründen beschloss, ab sofort ein Kopftuch zu tragen. Der Arbeitgeber hatte keinerlei Beweis für diese Annahme und er – so entschied das Gericht – beschnitt damit auf unzulässige Weise das Recht der Mitarbeiterin auf Religionsfreiheit. Aber natürlich verkannte der Arbeitgeber auch, dass muslimische Frauen mit Kopftuch längst zum Alltag in Deutschland gehören und eben Teil der so gerne geleugneten multikulturellen Gesellschaft sind. Auf der Straße und bei Kundinnen erlaubt und egal, nicht aber bei Verkäuferinnen?

Der Fall ist nicht der erste, der zum Thema Kopftuch deutsche Gerichte und Behörden beschäftigt. Aber die Fälle sind nicht völlig identisch: Da gab es bisher zwei Fälle, in denen Lehrerinnen das Recht abgesprochen bekommen hatten, mit Kopftuch zu arbeiten und gezwungen wurden, auf die Ausübung ihres Berufes zu verzichten. Eine der Betroffenen will vor das Bundesverfassungsgericht gehen – die höchste richterliche Instanz in Deutschland – aber selbst wohlmeinende Kenner weisen darauf hin, dass im Schuldienst die Dinge vielleicht doch etwas komplizierter seien als hinter der Verkaufstheke eines kleinstädtischen Kaufhauses:

In beiden Fällen ist das Tragen des Kopftuches der Ausdruck einer religiösen Stimmung oder Orientierung und während dies kaum Auswirkungen auf die Wahl des passenden Lippenstiftes haben dürfte, könnte es in der Schule aber doch zu einem Problem werden. Trotz des Kruzifixes an so mancher Klassenzimmer-Wand sollte die Religion aus den Schulen und dem Unterricht herausgehalten werden. Und der Argwohn mancher Eltern mag zumindest teilweise berechtigt sein, wenn eine Lehrerin demonstrativ ihre Religionszugehörigkeit zur Schau trägt.

Die Kopftuch-Gegner unterstellen der Gegenseite gerne eine gewisse Militanz und Provokationslust. Dabei sind sie es doch, die den "Fall" zum Fall machen. Nach dem Spruch von Erfurt ist zu hoffen, dass sich dies ändert. Und dass man damit die Realitäten in diesem Land akzeptiert. Nicht nur, dass hier Menschen aus aller Herren Länder leben, sondern auch, dass der Islam längst drittgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland ist.