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Nach dem Brexit ist vor dem Brexit

1. Februar 2020

Die Briten haben offiziell die Europäische Union verlassen. Doch die Hängepartie wird weitergehen - mindestens bis Ende des Jahres, wahrscheinlich aber noch viel länger.

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Großbritannien London | Tower Bridge
Bild: picture-alliance/NurPhoto/B. Zawrzel

Rund dreieinhalb Jahre vergingen zwischen dem Brexit-Referendum am 26. Juni 2016 und dem offiziellen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union am 31. Januar 2020 um 24 Uhr Brüsseler Zeit.

Das Drama, das sich in dieser Zeit vor den Augen der Weltöffentlichkeit entfaltete, wird allerdings fast unverändert weitergehen. Sogar die Kernfrage bleibt bestehen: Droht ein hard Brexit, also ein ungeregelter Austritt - und in der Folge wirtschaftliches Chaos, Einbruch des Handels und lange LKW-Schlangen an den Grenzübergängen?

Bis Ende 2020 haben beide Seiten Zeit, ihre zukünftigen Handelsbeziehungen vertraglich zu regeln. "In dieser Zeit wird Großbritannien erst einmal im Europäischen Binnenmarkt und in der Zollunion bleiben", sagt Alexander Sandkamp vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW). "Aus wirtschaftlicher Sicht ändert sich vorerst nichts."

Großer Zeitdruck

Das Problem: Die Frist bis zum Jahresende ist denkbar knapp. "Wir halten die Übergangszeit für zu kurz, um ein Freihandelsabkommen auszuhandeln", sagt Joachim Lang, Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). "Ein richtiges Freihandelsabkommen braucht einfach viel mehr Zeit als nur ein paar Monate", so Lang zur DW. Zum Vergleich: Die Verhandlungen über das CETA-Abkommen zwischen der EU und Kanada dauerten sieben Jahre. Bis zum Jahresende sei allenfalls ein Basisabkommen machbar, glaubt Lang, "aber das kann nur einen Bruchteil eines richtigen Abkommens abdecken".

Ein Basisabkommen, das allenfalls Eckpunkte regelt - diese Idee könnte auch von Donald Trump stammen. Der US-Präsident hatte im Januar die "Phase Eins" eines Handelsabkommens mit China verkündet, das inhaltlich äußerst vage blieb.

Kaum Spielraum für Einigung

Europäer und Briten können ihre Frist laut Scheidungsvertrag um zwei Jahre verlängern. Das aber hat der britische Premierminister Boris Johnson bereits ausgeschlossen.

EU-Handelskommissar Phil Hogan hält Johnsons Ankündigung für "sehr seltsam" und einen politischen "Stunt". Und es wäre nichts Neues für Johnson. Mit den Worten "Ich würde lieber tot im Graben liegen" hatte er im Herbst vergangenen Jahres ausgeschlossen, eine Verlägerung des Austrittsdatums zu beantragen. Kurz darauf bat er in Brüssel um eine Verlängerung.

Möglich ist allerdings auch, dass der Termindruck nicht das größte Problem der anstehenden Verhandlungen sein wird. Jonathan Portes, Wirtschaftsprofessor am Kings College London, ist skeptisch, ob sich beide Seiten überhaupt auf ein Abkommen einigen können.

"Wenn ich mir die Positionen beider Seiten zu fairen Wettbewerbsbedingungen ansehe, insbesondere in Bezug auf staatliche Hilfen und Wettbewerbsregeln, dann ist der Spielraum für eine Einigung sehr gering", so Portes zur DW.

Und die Banken?

Für die Briten ist die EU der wichtigste Handelspartner. Von hier bezieht das Land mehr als die Hälfte (53 Prozent) seiner Importe, und hierhin gehen fast die Hälfte (45 Prozent) seiner Exporte. Beim Warenhandel verzeichnen die Briten ein Defizit, beim Handel mit Dienstleistungen einen Überschuss; unterm Strich blieb zuletzt ein Minus von umgerechnet 78 Milliarden Euro.

Sonnenuntergang London
City of London: Welchen Marktzugang erhält die britische Finanzindustrie in der EU?Bild: picture-alliance/dpa/D. Lipinski

Bei den Verhandlungen könnte vor allem der wichtige britische Finanzsektor für Probleme sorgen. "Der macht zehn oder elf Prozent der britischen Wirtschaftsleistung aus, ist der größte Steuerzahler, die wichtigste Exportbranche und beschäftigt 2,3 Millionen Menschen", sagt Gary Campkin vom Finanzbranchenverband TheCityUK der DW. "Diese Bedeutung muss in den Verhandlungen berücksichtigt werden".

Die Briten hoffen auf möglichst vollen Marktzugang für ihre Banken und Finanzdienstleister in der EU, während die EU befürchtet, Großbritannien werde seinen Finanzsektor nur noch lasch regulieren. "London sieht sich im Wettbewerb mit Plätzen wie New York, da ist die Versuchung groß, für die eigenen Banken die Zügel zu lockern", so Bundesbank-Vorstand Joachim Würmeling zur Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Um ihre Lizenzen für den EU-Markt zu retten, haben die meisten britischen Geldhäuser vorsorglich Dependancen in der EU eröffnet, allein 31 davon in Frankfurt am Main. Allerdings wird das wohl kaum reichen, wenn in den Verhandlungen kein Durchbruch erzielt werden kann.

Worst Case WTO

Zusätzlich kompliziert werden könnte das Prozedere durch Themen wie Fischerei-Rechte. Wirtschaftlich haben die Fischfang-Quoten keine große Bedeutung, doch ihr symbolischer Wert ist hoch. Ein Großteil der britischen Fischer hat beim Referendum für den Brexit gestimmt, und ein Slogan der Brexiteers lautete, mit dem EU-Austritt die Kontrolle über die britische Politik zurückzugewinnen.

Bye bye Brüssel!

Wenn sich die Briten und Europäer gar nicht einigen können und die Verhandlungen komplett scheitern, bleibt als "worst case" nur eine Handelsbeziehung nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO. Damit würden auf Waren und Dienstleistungen Zölle fällig. "Die Handelskosten würden sich sehr stark erhöhen", sagt Sandkamp vom Institut für Weltwirtschaft. "Höchstwahrscheinlich würde sich deshalb das Handelsvolumen zwischen Großbritannien und der Union reduzieren." Es steht also einiges auf dem Spiel, aber es ist nicht absehbar, ob oder wie sich beide Seiten einigen.

Für Investoren ist diese Unsicherheit Gift. "Das hat in der Vergangenheit bereits den Wechselkurs des britischen Pfunds und auch die Aktienkurse belastet", so Sandkamp. "Auch für Investitionen ist das schlecht. Unternehmen, die in Großbritannien investieren wollen, wissen nicht, wie die weitere Handelspolitik oder wie der Zugang zu Importen aussehen wird."

Nach Berechnungen des Finanzdienstleisters Bloomberg hat die britische Wirtschaft schon jetzt durch den Brexit gewaltigen Schaden genommen. Seit dem Referendum habe sich die britische Wirtschaft deutlich schlechter entwickelt als in den anderen G7-Staaten. Bloomberg beziffert die Brexit-Kosten bislang auf umgerechnet 150 Milliarden Euro, allein im Lauf des Jahres könnten 80 Milliarden Euro hinzukommen.

Andreas Becker
Andreas Becker Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Geldpolitik, Globalisierung und Verteilungsfragen.