1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Verloren ohne Nachhilfe

Wolfgang Dick11. März 2010

Jeder achte Schüler in Deutschland lernt nach der Schule in privat bezahlten Nachhilfestunden. Eltern geben dafür bis 1,5 Milliarden Euro jährlich aus. Sind Deutschlands Schüler zu dumm oder ist die Schule überfordert?

https://p.dw.com/p/MQXB
Frau an Tafel (Foto: DW/Nadine Wojcik)
Deutschunterricht im Sprachenatelier, einem Nachhilfeinstitut in BerlinBild: DW / Wojcik

Im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung haben Klaus und Annemarie Klemm eine Studie zur Nachhilfesituation in Deutschland angefertigt. Bisher gab es keine näheren Erkenntnisse zu dem Milliardenmarkt, der rund um die Nachhilfe entstanden ist. Die Bertelsmann-Bildungsforscher beziffern die jährlichen Ausgaben der Eltern für den privaten Zusatzunterricht ihrer Kinder auf eine Summe zwischen 940 Millionen und 1,5 Milliarden Euro. Das sind viele Stunden - eine kostet zwischen 10 und 20 Euro.

Die Nachfrage ist so groß, dass sich inzwischen rund 4000 Nachhilfe-Institute gegründet haben. Für manche dieser Einrichtungen ist das Geschäft mit der Angst um schlechte Noten so lukrativ, dass sie sogar Werbespots im Radio und Anzeigen in Zeitungen schalten.

Wissenslücken lauern überall

Obwohl Mathematik in Umfragen führender Meinungsforschungsinstitute als Lieblingsfach für die Mehrheit der Schüler gilt, gibt es hier genauso viel Nachhilfe wie für Fremdsprachen oder gar das Fach Deutsch. Die Wissenslücken bestehen damit in allen Fachbereichen. Nachhilfe wird zudem schon früh beansprucht - bereits auf der Grundschule.

Bildungsforscher Klaus Klemm erklärt dies mit der Tatsache, dass die Noten am Ende der Grundschulausbildung ganz entscheidend sind für die Empfehlung zu weiterführenden Schulen. Weil in Deutschland immer noch das Gymnasium vor Real- und Hauptschulen von Eltern für die Bildung ihrer Sprösslinge bevorzugt wird, gilt es als notwendig, bereits früh gute Noten zu haben.

Die wahren Gründe für den Nachhilfeboom

Kinder im Klassenraum mit Nachhilfelehrerin (Foto: DW/Nadine Wojcik)
Nachhilfe hilft - kostet aber zusätzlichBild: DW / Wojcik

Nachhilfelehrer verweisen gerne auf drei Gründe für benötigte Nachhilfe. Fehlende Techniken, sich Wissen anzueignen, mangelnde Aufmerksamkeit und Lernblockaden. Das alleine kann es aber nicht sein. Beim Blick auf die Zahlen der Bertelsmann-Studie fällt auf, dass in Baden-Württemberg die meiste Nachhilfe erteilt wird. In den südlichen Bundesländern gibt es höhere Einkommen. Die Studie stellt nun fest, dass gerade finanzstärkere Eltern nicht nur schlechte Noten ihrer Kinder verbessern wollen, sondern die guten Noten nochmals zu steigern versuchen. Die Kinder sollen ganz vorne mitmischen, um auch im späteren Wettbewerb beste Chancen zu haben.

Diese Entwicklung kritisiert Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung: "Es kann nicht sein, dass sich ein privat finanziertes System neben dem öffentlichen Schulsystem etabliert. Die Schule muss sicherstellen, dass alle Schüler entsprechend ihren Fähigkeiten alles ausreichend mitbekommen."

Das deutsche Schulsystem wird sich verändern

Unterrichtssituation 8Foto: DPA)
Die Zukunft: Lernen gemeinsam mit LernschwächerenBild: dpa/picture-alliance

Längst reagieren Bildungspolitiker auf den Nachhilfe-Ansturm. Sie erhalten von überforderten Schullehrern Beschwerden, dass in den Schulen zuviel Stoff in immer kürzerer Zeit vermittelt werden muss und in den Schulklassen zu unterschiedliches Bildungsniveau vorhanden ist. Das normale staatliche Bildungssystem scheint überfordert. Vera Reiß, Staatssekretärin im Bildungsministerium Rheinland Pfalz deutet bereits an, dass ihr Land bei der Lehrerfortbildung ansetzen will. Es müsse an Schulen selbstverständlich werden, dass umfassendere Fördermethoden eingesetzt werden.

Tatsächlich bemühen sich mehr und mehr Schulen in Deutschland um individuelleren Unterricht, der auch die Lernschwächeren mitnimmt. Christine Frank von der Carl-Kraemer-Grundschule in Berlin bestätigt den Bildungsforschern, dass dies durchaus möglich ist, wenn verstärkt zwei Lehrer im Unterricht eingesetzt werden. Dazu müsse man Klassen und Lehrpensum umgestalten. Wer diesen Aufwand scheue, werde den Anschluss an eine moderne Schule verpassen.

Jörg Dräger von der Bertelsmann-Stiftung baut ebenfalls auf Veränderungen im Bildungssystem. "Wir werden einen Wandel erleben - weg vom Einzeldozenten im Monolog vor der Klasse, hin zu einem Lernbegleiter, der auch im Lehrerteam arbeiten wird und nicht mehr alleine hinter verschlossenen Türen", prophezeit Dräger und betont: "Die Studie zur Nachhilfesituation beweist, wie wichtig es ist, die bestehende Situation einer Zwei-Klassen-Bildungsgesellschaft zu verändern".

Experten sind sich allerdings einig, dass noch etliche Jahre vergehen werden, bis es in Deutschland eine "andere Schule" geben wird. In dieser Zeit wird der Nachhilfeboom kaum abbrechen.