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Politik

Bange Blicke nach Berlin

2. Juni 2019

Die SPD-Chefin gibt auf und verschärft damit die Krise auf allen Ebenen: in der eigenen Partei, in der Bundesregierung - und in Europa. Wie und mit wem es jetzt weitergeht, scheint völlig offen zu sein.

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Deutschland Berlin | Andrea Nahles, Sondersitzung SPD-Bundestagsfraktion
Bild: picture-alliance/dpa/K. Nietfeld

Andrea Nahles hat alle kalt erwischt. Mit ihrem am Sonntag angekündigten Rücktritt von allen politischen Ämtern hatte anscheinend niemand gerechnet. Schließlich wollte sich die Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) am kommenden Dienstag als Chefin der Bundestagsfraktion wiederwählen lassen. Dazu passte auch ihre Entschlossenheit nach dem historisch schlechten SPD-Ergebnis bei der Europawahl am 26. Mai. Sie spüre die Verantwortung, die sie habe, "die will ich aber auch ausfüllen".

Und nun dieser Paukenschlag. Im Berliner Regierungsviertel löste die Entscheidung weit über die SPD hinaus sorgenvolle Fragen aus. Wer könnte ihre Nachfolge als SPD-Vorsitzende antreten? Wer soll künftig die Parlamentsfraktion führen? Und vor allem: Wie geht es weiter mit der Regierungskoalition? Am frühen Abend trat Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin vor die Presse. Exakt 88 Sekunden dauerte das Statement der Christdemokratin. Man werde die Regierungsarbeit fortsetzen - "mit aller Ernsthaftigkeit und vor alle Dingen auch großem Verantwortungsbewusstsein".

Andrea Nahles, die GroKo-Befürworterin

Die Frage ist nur, ob Merkels Koalitionspartnerin das auch will? Denn die SPD wollte schon nach der Bundestagwahl 2017 keine Neuauflage dieses innerparteilich höchst umstrittenen Bündnisses. Doch nach den überraschend gescheiterten Sondierungsgesprächen zwischen Konservativen (CDU/CSU), Grünen und Freien Demokraten (FDP) änderte die SPD ihre Meinung. Aus staatspolitischer Verantwortung, wie es allenthalben hieß. Wortführerin damals: Andrea Nahles. In einem Mitgliederentscheid stimmten dann allerdings nur zwei Drittel für eine weitere schwarz-rote Koalition, der dritten seit 2005.

Die Gegner einer erneuten Regierungsbeteiligung durften sich anschließend bestätigt fühlen. Bei allen wichtigen Wahlen verlor die SPD weiter an Boden. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa. Zuletzt ging im Stadtstaat Bremen eine der wenigen verbliebenen Bastionen verloren. Erstmals wurde dort Merkels CDU stärkste Kraft. Kein Wunder, dass die nicht enden wollende Niederlagen-Serie aufs Gemüt drückt und Nahles in der SPD von Tag zu Tag umstrittener wurde.

SPD Mitgliederentscheid Große Koalition - Symbolbild
Andrea Nahles warb 2018 leidenschaftlich für eine Neuauflage der große Koalition - danach stürzte die SPD weiter ab Bild: picture-alliance/dpa/S. Gollnow

Merkel: "…wenn ich an die Situation in der Welt denke" 

Die Bundeskanzlerin muss nun mehr denn je befürchten, dass ihre Regierung vielleicht schon bald platzt. Deshalb durfte man ihre wenigen Sätze nach dem angekündigten Nahles-Rücktritt auch als dringenden Appell an die SPD zum Weitermachen verstehen. "Die Themen, die zu lösen sind, liegen auf dem Tisch." Sowohl in Deutschland als auch in Europa – "auch wenn ich an die Situation in der Welt denke".

Ein Scheitern der Regierung Merkel könnte auch Auswirkungen auf die Europäische Union (EU) haben. Das frisch gewählte EU-Parlament sowie die Staats- und Regierungschefs stehen vor der schwierigen Aufgabe, eine neue Kommission zu bilden. Weder das linke noch das rechte Lager verfügen über eine Mehrheit. Als Kommissionspräsident ist unter anderem der Deutsche Manfred Weber (CSU) im Gespräch. Eine brüchige Regierungskoalition in der Heimat könnte seine Chancen schmälern.

Über Nahles-Nachfolger wird schon spekuliert

Merkels CDU und ihre bayerische Schwester CSU haben also auch mit Blick auf Brüssel ein gesteigertes Interesse an einer Fortsetzung der großen Koalition in Berlin. Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer erwartet von der SPD, dass sie in der Regierung bleibt. "Der Koalitionsvertrag bildet die Grundlage für notwendige Weichenstellungen und die Vertretung deutscher Interessen in Europa und in der Welt." Man wolle mit "guter Regierungspolitik" dem Land dienen, betonte Kramp-Karrenbauer.

Deutschland CDU-Parteizentrale in Berlin | Annegret Kramp-Karrenbauer, Parteivorsitzende
Andrea Nahles angekündigter Rücktritt bereitet CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer KopfzerbrechenBild: Reuters/H. Hanschke

Die schwer angeschlagene SPD muss nun kurzfristig entscheiden, wer Nahles' frei werdende Ämter übernehmen soll. Am Sonntag zeichnete sich eine Übergangslösung ab. Demnach könnte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer kommissarisch den Parteivorsitz ausüben und der Kölner Bundestagsabgeordnete Rolf Mützenich vorübergehend an die Spitze der Parlamentsfraktion rücken. Am Montag und Dienstag wollen die zuständigen Gremien darüber entscheiden.

Von Neuwahlen würden wohl vor allem die Grünen profitieren

Derweil machen sich auch die anderen Parteien Gedanken darüber, wie es weitergehen könnte. Die laufende Legislaturperiode endet planmäßig 2021.  Sollte es zu vorgezogenen Neuwahlen kommen, dürften sich allen voran die Grünen Hoffnungen auf eine Regierungsbeteiligung machen. In einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Forsa landete die Umweltpartei mit 27 Prozent erstmals vor CDU/CSU (26 Prozent). Die SPD käme nur noch auf zwölf Prozent.

Konservative und Grüne könnten also mit einer stabilen gemeinsamen Mehrheit rechnen. Sie wären nicht mehr auf die Freien Demokraten angewiesen, mit denen man nach der Bundestagswahl 2017 über ein sogenanntes Jamaika-Bündnis verhandelte. Damals stieg die FDP nach wochenlangen Sondierungen aus. Die Begründung ihres Vorsitzenden Christian Lindner: "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren."

Eine Minderheitsregierung wäre riskant

Ein Satz, an den sich nach dem Nahles-Schock manche erinnern werden - vor allem in der SPD. Denn viele haben es von Anfang an für einen Fehler gehalten, Angela Merkel zur ihrer vierten Kanzlerschaft zu verhelfen. Die könnte nun früher als geplant enden. Sollte die SPD aus der Koalition aussteigen, gäbe es außer Neuwahlen noch die Möglichkeit einer Minderheitsregierung. Dafür müsste sich die Bundeskanzlerin für jedes politische Vorhaben neue Mehrheiten suchen. Eine Variante, die angesichts der nationalen wie internationalen Herausforderungen eher unwahrscheinlich ist.