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"Natürlich würden wir fahren!"

23. März 2011

Riefe man sie, würden Nikolaj Wlassow und Anatolij Ligun sofort nach Fukushima aufbrechen. 1986 hatte man sie in Tschernobyl als "Liquidatoren“ eingesetzt. Sie verhinderten Schlimmeres und bezahlten mit ihrer Gesundheit

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Nikolaj Wlassow und Anatolij Ligun, ehemalige Tschernobyl-Liquidatoren. (c) Oxana Evdokimova Ort: Wanderausstellung "25 Jahre nach Tschernobyl", Potsdam Datum: März 2011
Nikolaj Wlassow und Anatolij LigunBild: DW/O.Evdokimova

Nikolaj Wlassow und Anatolij Ligun verfolgen aufmerksam alle Anstrengungen, die Japan unternimmt, um eine noch größere Katastrophe zu verhindern. Nikolaj und Anatolij sind so genannte Liquidatoren: Helfer, die unmittelbar nach dem Super-GAU von Tschernobyl 1986 zum Unglücksreaktor abkommandiert wurden, um noch Schlimmeres zu verhindern oder bei den Sicherungsarbeiten zu helfen. Damals waren sie Soldaten, jetzt sind sie Aktivisten des Ukrainischen Tschernobyl-Bundes. Die beiden fühlen nicht nur Solidarität mit den Arbeitern des AKW Fukushima. Sie haben selbst ähnliches mitgemacht. Wenn sie die Ereignisse um die Reaktor-Arbeiter, Feuerwehrleute und Soldaten verfolgen, dann fühlen sie mit ihnen, weil sie wissen, in welcher Gefahr die Männer sich befinden, welch enormer Strahlung das Personal des AKW ausgesetzt ist. „Man muss in Schichten arbeiten, man muss die Männer rechtzeitig und regelmäßig austauschen, damit sie nicht zu lange im Einsatz und damit zu hohen Dosen Radioaktivität ausgesetzt sind.“ Beide wissen nur zu gut, dass die gesundheitlichen Schäden nicht heilbar sind.

Dass er noch lebt, ist für Anatolij Ligun ein Wunder

Das ausgestellte Foto zeigt Anatolij Ligun als jungen Offizier vor seinem Einsatz in Tschernobyl (c) Oxana Evdokimova Ort: Wanderausstellung "25 Jahre nach Tschernobyl", Potsdam
Das ausgestellte Foto zeigt Anatolij Ligun als jungen Offizier vor seinem Einsatz in TschernobylBild: DW/O.Evdokimova

Unglück waren die jungen Männer gesund, nach dem Einsatz wurden sie krank. Offiziell sind bis zu 15 verschiedene Erkrankungen bei den einstigen Liquidatoren diagnostiziert“, sagt Ligun. Er stieß im Sommer 1986 zu den Liquidatoren. Seine Aufgabe war es, mehrere Gebäude des AKWs mit einer Bleischicht zu überziehen, um auf diese Weise die Radioaktivität in unmittelbarer Umgebung des havarierten Reaktorblocks zu senken. Ligun führte Messungen durch, um das Ausmaß der radioaktiven Verschmutzung zu erfassen. Dass er bis heute noch lebt, ist für Ligun ein Wunder. „Nach jedem Einsatz übergab ich mich. Mir wurde schwindlig. Die Folgen der Verstrahlung machten sich sofort bemerkbar. Alle wurden heiser. Alle röchelten. Der Hals kratzte. Alles verschwamm vor den Augen.“ Das war erst der Anfang. Zwei Wochen später begannen bei allen Liquidatoren die Probleme mit dem Herzen, die Herzrhythmusstörungen. Ligun sagt, offiziell liege die Strahlendosis, der er ausgesetzt gewesen war, bei 29,5 Sievert. Den tatsächlichen Wert vermutet er beim Vierfachen.

Im Hubschrauber über der Unglücksstelle

Nikolaj Wlassow (c) Oxana Evdokimova Ort: Wanderausstellung "25 Jahre nach Tschernobyl", Potsdam
Nikolaj WlassowBild: DW/O.Evdokimova

Liguns Mitstreiter Nikolaj Wlassow befand sich fünf Stunden nach der Explosion des Reaktorblocks 4 von Tschernobyl in einem Hubschrauber, um die Ausmaße der Katastrophe überblicken zu können. „Wir näherten uns der Unglücksstelle, wir sahen, dass die Explosion enorm war. Die Reaktorhülle war zerstört, in der Luft war Grafit aufgewirbelt, Urantabletten. Die Radioaktivität betrug weit über 1000 Röntgen. Und so flogen wir nahe heran und berichteten: Es handelt sich um eine Katastrophe.“ Zu seinem Schutz trug Wlassow nur eine Gasmaske. Weil die Radioaktivität bei über 2000 Röntgen lag, ging der Helikopter nicht tief herunter. Was Wlassow bis heute schlaflose Nächte bereitet, ist die Untätigkeit der Behörden: „Niemand in der Ukraine hat sich getraut, die Evakuierung der Bevölkerung anzuordnen. Alle starrten Richtung Moskau. Aber für Moskau war es oberste Priorität, keine Panik aufkommen zu lassen.“ Den Menschen wurden die Informationen vorenthalten. Eine fatale Fehlentscheidung, die zur Tragödie führte, sagt Wlassow.

Fukushima - ein zweites Tschernobyl?

„Die Erinnerungen kommen sofort hoch“, sagt Anatolij Ligun beim Anschauen des Fotos (c) Oxana Evdokimova Ort: Wanderausstellung "25 Jahre nach Tschernobyl", Potsdam
„Die Erinnerungen kommen sofort hoch“, sagt Anatolij Ligun beim Anschauen des FotosBild: DW/O.Evdokimova

Wenn die einstigen Liquidatoren die Katastrophe von Tschernobyl mit dem Unglück in Fukushima vergleichen, dann weisen sie vor allem auf die Unterschiede hin. Anatolij Ligun meint, der Unfall von Tschernobyl sei für alle unerwartet geschehen, mitten in der Nacht. Die japanischen Verantwortlichen seien indes durch den Tsunami vorgewarnt gewesen und konnten Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, um die nukleare Katastrophe noch abzuwenden. Zweiter großer Unterschied: In Japan wurde die Bevölkerung im unmittelbaren Umfeld des Reaktors sofort evakuiert, während man damit in Tschernobyl erst 24 Stunden später anfing. „Zudem handelt es sich bislang um Explosionen, die noch nicht Anlass zur Befürchtung gegeben haben, dass der Reaktorkern bereits zerstört und die Kettenreaktion im Gange ist und zum Ausstoß hochradioaktiver Elemente wie Plutonium, Uran, Strontium und Cäsium geführt hat.“ Anatolij Ligun betet zu Gott, dass dies nicht geschehen möge, dass die Japaner die Situation in den Griff kriegen. Es sei schwierig, aber möglich, meint er.

Die Liquidatoren würden keine Sekunde zögern

Nikolaj Wlassow heute und vor der Katastrophe (c) Oxana Evdokimova Ort: Wanderausstellung "25 Jahre nach Tschernobyl", Potsdam
Nikolaj Wlassow heute und vor der KatastropheBild: DW/O.Evdokimova

Ungeachtet aller Gefahren und der eigenen angegriffenen Gesundheit würden Nikolaj Wlassow und Anatolij Ligun sofort nach Japan aufbrechen, wenn die Kollegen in Fukushima-1 ihre Hilfe bräuchten. „Natürlich würde ich fahren. Wir haben sowieso nichts mehr zu verlieren.“ Außerdem seien die Atomarbeiter heutzutage viel besser geschützt als damals in Tschernobyl. Und sie wissen, worauf sie sich einlassen. Anders als vor 25 Jahren in der Ukraine. Sie hoffen, dass mit den japanischen Atomarbeitern alles in Ordnung ist. Wenn man Tschernobyl überleben kann, dann kann man wohl auch Fukushima überstehen – so lautet wohl die logische Schlussfolgerung der beiden Liquidatoren.

Autor: Oxana Evdokimova / Birgit Görtz
Redaktion: Bernd Johann