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Kein "Türxit" absehbar

Wulf Wilde18. Juli 2016

Kann sich die NATO noch auf die Türkei als Partner verlassen? Im DW-Interview erläutert Sicherheitsexperte Henning Riecke, warum beide Seiten großes Interesse an einer Fortsetzung der Zusammenarbeit haben.

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Fahnen der Mitgliedsstaaten vor dem Hauptquartier der NATO in Brüssel (Foto: EPA/JULIEN WARNAND)
Bild: picture-alliance/dpa/J. Warnand

DW: Nach dem gescheiterten Putsch scheint der türkische Präsident den Moment zu nutzen, um hart gegen seine Gegner vorzugehen. Welche Folgen könnte der gescheiterte Umsturzversuch auf die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik haben?

Henning Riecke: Es mussten bereits einige Kröten geschluckt werden, als es darum ging die Türkei zur Bewältigung der Flüchtlingskrise oder im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) einzubinden. Die Situation wird jetzt nicht einfacher. Insbesondere falls es zur Einführung der Todesstrafe kommt oder Erdogan die Wut unter seinen Anhängern nicht zügelt, sondern sie eher von der Leine lässt. Dass würde bedeuten, dass man in Zukunft wohl noch schwieriger mit ihm ins Gespräch kommen kann und eine EU-Mitgliedschaft, ohnehin wenig wahrscheinlich, in noch weitere Ferne rückt. Über kurz oder lang würde das auch die Frage aufwerfen, wie die Türkei als Partner zu behandeln ist.

Wie hat die neue Lage die Beziehungen zwischen der Türkei und der NATO verändert?

Obwohl bei der NATO immer auch von einer Wertegemeinschaft die Rede ist, geht es innerhalb des Bündnisses vor allem um die strategische und militärische Bedeutung eines Mitgliedlandes. Und die hat im Falle der Türkei nicht abgenommen. Sollte die türkische Regierung jedoch in Folge des innenpolitischen Machtkampf den Druck auf die Kurden verstärken oder in Syrien eine aktive, den Konflikt anheizende Rolle einnehmen, kann ich mir schon vorstellen, dass sich die anderen NATO-Mitglieder irgendwann die Frage stellen werden, ob die Türkei unter diesen Voraussetzungen noch die uneingeschränkte Solidarität der anderen Bündnisstaaten genießen kann.

Dr. Henning Riecke (Foto: DGAP/Dirk Enters)
Henning Riecke von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.Bild: DGAP/D. Enters

Wie wichtig ist die Türkei als strategischer Partner für NATO und EU?

Die Türkei hat gegenüber Nachbarstaaten an der Südostflanke der NATO eine wichtige strategische Position, also gegenüber dem Iran, Irak und Syrien und den Konflikten, die dort stattfinden. Die Türkei ist insofern ein wichtiger Vorposten beispielsweise beim Kampf gegen den Islamischen Staat (IS). Wobei nie ganz klar geworden ist, ob die Türkei als Gegner des Assad-Regimes in Syrien nicht auch den IS eine Zeitlang unterstützt hat. Die Türkei ist als Schwarz-Meer-Anrainer für die NATO auch als Verbündeter gegenüber Russland sehr wichtig. Das Schwarze Meer ist eine Region, wo sich westliche und russische Interesse sehr nahe kommen. Dort wird die NATO auf die Türkei nicht verzichten wollen.

Das Verhältnis der Türkei zur NATO ist ja schon länger angespannt. Halten Sie es für möglich, dass sich die Türkei künftig strategisch und militärisch Russland zuwendet?

Ich denke, dass zwar das Verhältnis zwischen den USA und der Türkei relativ schlecht ist. Zwischen der Türkei und Russland gibt es aber auch strategische Konflikte. Russland hat die Türkei in früheren Zeiten in Zentralasien durchaus gewähren lassen, sieht inzwischen aber den Einfluss, den die Türkei bei den Turkvölkern in Zentralasien oder auch bei den Krimtataren hat, eher kritisch. Und dass Russland bei seinem militärischen Einsatz in Syrien auch Dörfer der Turkmenen bombardierte, hat das Verhältnis zwischen Russland und der Türkei nachhaltig verschlechtert. Dass sich die Türkei jetzt aus Ärger über das Verhalten der USA oder anderer NATO-Staaten in einer Kurzschlussreaktion gegenüber Russland öffnet, halte ich vor diesem Hintergrund für unwahrscheinlich. Vielmehr wäre es eigentlich wünschenswert, wenn Russland und die Türkei wieder mehr kooperieren würden, weil damit dieser Konflikt eingedämmt würde.

Für die EU spielt die Türkei auch in der Flüchtlingspolitik eine wichtige Rolle. Sind die getroffenen Vereinbarungen durch den gescheiteten Putschversuch und die "Säuberungen" gefährdet?

Ich glaube, dass die Erfüllung der Vereinbarungen mit der EU im türkischen Interesse liegt, weil ja auch eine Menge Geld fließt. Wahrscheinlicher scheint mir, dass auch aus der EU weniger direkte Kritik am Vorgehen Erdogans kommen wird - solange nicht ganz klare symbolische rote Linien überschritten werden, wie beispielsweise die Wiedereinführung der Todesstrafe oder Folter von Oppositionellen. Der Flüchtlingspakt ist für die EU sehr wichtig. Wenn sich die aktuellen "Säuberungen" auch nur halbwegs in einem rechtsstaatlichen Rahmen bewegen, könnte ich mir gut vorstellen, dass man sich seitens der EU eher bedeckt hält, um die Türkei an dieser Stelle nicht noch herauszufordern.

Gibt es denn in der NATO einen Plan B für den Fall, dass die Türkei aus der NATO ausschert?

Ich habe von einem solchen Plan B für den Fall eines NATO-Austritts der Türkei noch nie etwas gehört. Es hat auch allen Anschein, als wollte die Türkei im Bündnis bleiben. Das Land hat ein großes Interesse in der NATO zu sein, auch wenn es hier und da knirscht. Momentan sind wir nicht mit einem Austrittsszenario, einem Türxit, konfrontiert. Bei jedem Einsatz der Allianz wird aber immer geprüft, wer mitmachen will, wer Fähigkeiten zur Verfügung stellt, da spielt das aktuelle politische Klima und die sicherheitspolitischen Lage der jeweiligen Mitgliedstaaten natürlich auch eine Rolle. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es Überlegungen innerhalb der NATO gibt, was man ohne die Türkei machen würde.

Dr. Henning Riecke ist seit Januar 2009 Leiter des Programms USA/Transatlantische Beziehungen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.

Das Interview führte Wulf Wilde.