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Gesellschaft

Annäherung an einen deutschen Papst

19. Mai 2020

Der Publizist Peter Seewald hat eine weitere wuchtige Biographie des emeritierten Papstes aus Deutschland vorgelegt. Sie bringt Benedikt XVI erneut näher, lässt aber noch Fragen offen.

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Der emeritierte Papst Benedikt XVI
Bild: picture-alliance/dpa/D. Karmann

Es ist ein gewaltiges Buch. 1150 Seiten, gut 1600 Gramm Papier. Der Publizist Peter Seewald geht in "Benedikt XVI. - Ein Leben" mit umfassendem Blick durch das Leben von Joseph Ratzinger. Des großen katholischen Theologen, der am Karsamstag des Jahres 1927, dem 16. April, geboren und gut 78 Jahre später vom Konklave zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt wurde.

Das Buch ist keine nüchterne oder distanzierte Biographie, will es auch gar nicht sein. Es trägt Züge einer Bewunderung, wie sie vom Schreibstil her in manchen Hagiographien der Orthodoxie, der Lebensbeschreibung von Heiligen, eher üblich ist. Das fängt schon bei der Schilderung der Kindheit an. Ein "hübscher Junge, sensibler Charakter", "geistig frühreif", "hochbegabt, hochsensibel", "ein besonders zartes, auch ein besonders schwächliches Kind". Das sind einige der Attribute, die Seewald auf den ersten hundert Seiten für den Buben verwendet. 

Bleibender Wert für Ratzinger-Interpretationen

Der 65-jährige Seewald, knapp 100 Kilometer von den Orten der Ratzinger-Kindheit im katholischen Milieu aufgewachsen, später aus der Kirche ausgetreten und durch die Auseinandersetzung und Annäherung an Ratzinger zurückgekehrt, kennt den nun 93-jährigen Geistlichen wie vermutlich kaum ein anderer Publizist. Seit 1996 hat er ein Porträtbuch und mehrere Interviewbücher mit Ratzinger beziehungsweise Benedikt XVI. veröffentlicht, die jeweils in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Zuletzt war dies 2016 "Benedikt XVI. Letzte Gespräche mit Peter Seewald".

Papst-Biograf Peter Seewald
Papst-Biograf Peter Seewald wirft einen analytischen Blick auf RatzingerBild: Jung-Hee Seewald

Diesmal also ein Nach-Gespräch. Ein kleiner Teil des neuen Buches, seine letzten acht Seiten, ist in Interviewform gehalten, laut Seewald ein Gespräch aus dem Herbst 2018. Sie werden für die weitere Ratzinger-Interpretation von bleibendem Wert sein. Denn erkennbar versucht der frühere Papst, das Verständnis seines Rücktritts 2013 und die Sicht auf das Verhältnis zu seinem Nachfolger Franziskus zu prägen.

Erklärungsversuche für den spektakulären Rücktritt

Ihn hätten weder Fälle von Korruption im Vatikan oder der "Vatileaks"-Skandal mit der Veröffentlichung geheimer Dokumente zum Rückzug bewegt. Ihm sei aber klar geworden, dass neben einer möglichen Demenz "auch andere Formen von nicht mehr genügender Fähigkeit zur rechten Amtsführung möglich sind". Man weiß, dass der 93-Jährige heute kaum mehr sehen kann.

Kritik an der damaligen Rücktrittsentscheidung, die im Februar 2013 die Welt bewegte und nicht wenige in der Kirche erschüttert hatte, wies er zurück. Dabei widersetzt sich Ratzinger "jedem Gedanken an ein Miteinander von zwei Päpsten". Zwar gebe es eine enge geistliche Verbindung, aber jeder Bischofssitz, so auch der von Rom, "kann nur EINEN Inhaber haben". Für sich selbst benutzt er den sehr bayerischen Vergleich zu einem Alt-Bauern, der den Hof an die nächste Generation weitergegeben hat und aus dem Hauptgebäude ausgezogen ist.

Freundschaft zu Amts-Nachfolger Franziskus

Kritik an seinen wiederkehrenden Wortmeldungen, die in den vergangenen Jahren durchaus zu aktuellen kirchenpolitischen Debatten passten, bewertet Ratzinger als "bösartige Verzerrung der Wirklichkeit" und "Stimmungsmache" gegen ihn. Die deutsche Theologie - er nennt sie ausdrücklich - sei "so töricht und so bösartig". Man wolle "einfach meine Stimme ausschalten". Das gibt erneut Anlass zu Spekulationen, aber diese Passage lässt der Interviewer Seewald so stehen.

Ebenfalls fehlt der Hinweis, dass sich Benedikt bei seinen Abschiedsworten 2013 als einfachen Gläubigen bei der "letzten Etappe seiner Pilgerreise auf dieser Erde" bezeichnet hatte, der "verborgen vor der Welt leben" und sich dem Gebet widmen wolle. Jedenfalls bezeichnet Ratzinger das Verhältnis zu seinem Nachfolger als herzlich, als persönliche Freundschaft. Er habe 2013 "überhaupt nicht", gespürt, wer denn wohl sein Nachfolger werde. 

Vatikan Papst Franziskus und Benedikt XVI.
Papst Franziskus und sein Amtsvorgänger Benedikt XVIBild: Reuters/Vatican Media

In dem Interview wird auch deutlich, wie sehr die Gedanken an "das Böse" und "die Dunkelheiten" in der Geschichte diesen Papst prägten. Biographisch mag das durch die Zeit des Nationalsozialismus erklärt sein. Aber merkwürdig und durchaus spektakulär ist es schon, wie Ratzinger von der "geistigen Macht des Antichristen" spricht und die "weltweite Diktatur von scheinbar humanistischen Ideologien" anprangert. Wer diesen widerspreche, werde aus dem "gesellschaftlichen Grundkonsens" ausgeschlossen.

Konkretes Beispiel: Heute werde "gesellschaftlich exkommuniziert", wer sich der "homosexuellen Ehe" entgegenstelle. Da wird nicht weiter erörtert, dass es auch erst ein paar Jahrzehnte her ist, dass die katholische Kirche Menschenrechte anerkannte und Demokratie bejahte. Aber da spricht jener Ratzinger, der auch im Amt gelegentlich scheu und ängstlich wirkte.

Mangelnde Auseinandersetzung mit schwierigen Momenten

Enttäuschend ist das Buch in der Auseinandersetzung mit der Theologie der vergangenen Jahrzehnte. Das liegt an Benedikt wie am Autor. Zwei Namen, beispielhaft. Da ist Hans Küng (92), der weltweit bekannte Schweizer Theologe, dem der Vatikan 1979 die Lehrerlaubnis entzog. Küng und Benedikt, die vor gut 50 Jahren Kollegen waren, trafen sich im September 2005 für vier Stunden. Da war der Deutsche seit fünf Monaten Papst. Das war spektakulär. Und nun? Spricht Ratzinger im Buch wieder vom "großen Mundwerk" Küngs und den "frechen Dingen", die er sage. Das ist arm. Ein weiterer wichtiger Name fehlt: Peter Hünermann (91), Tübinger Dogmatiker. Ratzinger warf ihm vor knapp zwei Jahren "antipäpstliche Kampagnen" vor. Lächerlich bei der Liebe Hünermanns zur Kirche. Aber der Name taucht im dicken Buch nicht einmal auf. Schade. Und schwach bleiben auch Seewalds Ausführungen zur Entstehungsgeschichte der CDU.

Buchcover | Benedikt XVI.: Ein Leben von Peter Seewald
Die umfangreiche Biographie, die nicht alle Fragen beantwortet

Andeutungen über eine frühere Liebe 

All das wird dann zur Sprache kommen, wenn es einmal eine kritische und würdigende Biographie Ratzingers/Benedikts geben wird. Am stärksten ist das Buch, wenn es ums Menschliche geht, auch mit Blick auf seine Jugend, seine Erfahrungen in der NS-Zeit. Auch bei der theologischen Prägung, die Ratzinger zu einem Meister bei der Frage "Glaube und Vernunft" machte.

Und man erfährt erneut, dass der junge Ratzinger mal verliebt war. "Das Geheimnis trug einen Namen. Einen weiblichen. Er wurde nie gelüftet." Da lässt Seewald noch Platz für ein weiteres Buch.