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"Nicht gegen die Ukraine": Geschichten russischer Deserteure

Natalia Smolentceva
27. September 2023

Viele russische Deserteure haben keine Reisepässe und stehen auf der internationalen Fahndungsliste. Ohne Papiere versuchen sie, sich im Ausland durchzuschlagen. Drei von ihnen haben der DW von ihrem Schicksal erzählt.

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Russische Soldaten auf einem Lastwagen mit dem Kriegssymbol "Z"
Russische Soldaten auf einem Lastwagen mit dem Kriegssymbol "Z"Bild: Sergei Malgavko/TASS/dpa/picture alliance

Während in München das Oktoberfest in vollem Gange ist, treffen wir "Wassilij" in einem ruhigen Park am Rande der Stadt. Wassilij ist seit fast einem Monat in Deutschland. Er ist einer der ersten russischen Deserteure, denen es gelungen ist, auf legalem Wege einzureisen.

Der junge Mann sagt, in Deutschland fühle er sich sicher, doch er habe Angst um seine Familie daheim. Deshalb möchte er auch nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden. Wegen Fahnenflucht drohen ihm in Russland, wo die Behörden nach ihm fahnden, bis zu 15 Jahre Gefängnis.

"Ich kämpfe nicht gegen mein eigenes Volk"

Wassilij ist Artillerist. Er hatte an der Militärakademie studiert und sich für mehrere Jahre zum Dienst in der Armee verpflichtet. Doch er ist schon seit langem von ihr enttäuscht. Versuche, aus der Armee auszutreten, blieben ohne Erfolg. Als Russland die Ukraine angriff, erhielt er den Befehl, an die Front zu gehen.

"Sie sagten: Mach dich bereit, uns gehen schon die Leute aus", erinnert sich Wassilij. Aber er weigerte sich. "Ich bin ukrainischer Herkunft", habe er seinem Vorgesetzten gesagt: "Mein Vater ist Ukrainer, ich werde nicht gegen mein eigenes Volk kämpfen."

Gespräch mit Wassilij am Rande von München
Gespräch mit Wassilij am Rande von MünchenBild: N. Smolentzewa/DW

Trotz aller Drohungen seines Vorgesetzten ging Wassilij nicht an die Front. Aus seiner Einheit entlassen wurde er aber auch nicht. Wie Wassilij und andere Deserteure der DW erzählten, war es schon vor dem 21. September 2022, als Präsident Wladimir Putin eine Teilmobilmachung ankündigte, nicht einfach, die Armee zu verlassen. Danach sei dies gänzlich unmöglich geworden. Die Strafen für das unerlaubte Verlassen einer Kaserne und für Fahnenflucht wurden auf zehn beziehungsweise 15 Jahre Gefängnis heraufgesetzt.

"Es gab keinen Ausweg", sagt Wassilij. "Ich bekam einen Anruf vom Kommando und es hieß: 'Entweder du ziehst in den Krieg oder wir eröffnen ein Strafverfahren gegen dich. Dann kommst du hinter Gitter, von wo aus du sowieso in den Krieg geschickt wirst'." Deshalb beschloss Wassilij, aus Russland zu fliehen.

Viktor: "Es war einfach unmöglich, sich zu weigern"

Nach Einschätzung der Organisation "Go by the Forest", die Russen hilft, einer Einberufung in den Krieg zu entgehen, haben nach Ankündigung der Mobilmachung mehr als 500 Deserteure das Land verlassen. Und das sind nur die, die sich an Menschenrechtsaktivisten gewandt haben. Die tatsächliche Zahl liegt vermutlich um ein Vielfaches höher.

Die meisten der Männer fliehen vor allem nach Kasachstan oder Armenien. Einer von ihnen ist der Kommunikationsoffizier Viktor. Auch er will seinen richtigen Namen nicht nennen. Im Unterschied zu Wassilij nahm er aber an russischen Militäreinsätzen gegen die Ukraine teil.

Viktor berichtet der DW per Videoanruf aus Astana
Viktor berichtet der DW per Videoanruf aus AstanaBild: N. Smolentzewa/DW

Per Videoanruf aus der kasachischen Hauptstadt Astana sagt Viktor, dass auch er versucht habe, aus der Armee auszutreten. Doch im Februar 2022 sei er aufgefordert worden, zu einer Übung auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim zu fahren. Gleich am 24. Februar beteiligte sich seine Einheit an der russischen Invasion.

"Sie weckten uns um 5 Uhr morgens, stellten uns in Kolonnen auf und sagten: 'Es geht los!' Sie sagten aber nicht, wohin es gehen sollte", erinnert sich Viktor. "In diesem Moment war es einfach unmöglich, sich zu weigern. Wenn man nach vorne gelaufen wäre, hätten die Ukrainer einen erschossen, und wenn man zurückgelaufen wäre, hätten einen die eigenen Leute gefangen", erzählt Viktor.

Er selbst war bis zum Sommer 2022 auf ukrainischem Territorium. "Ich habe hingerichtete Kriegsgefangene gesehen und die entsprechenden Befehle des Kommandeurs der Einheit gehört", sagt er, versichert aber: "So etwas wie in Butscha hat es bei uns nicht gegeben." Von den Massakern an Zivilisten in der Ukraine will Viktor erstmals Ende April 2022 erfahren haben, als es ihm gelang, auf das Internet zuzugreifen. "Danach habe ich vieles neu überdacht", sagt er.

Jewgenij: "Ich bin bereit, mich vor Gericht zu verantworten"

Auch Jewgenij, Offizier einer Spezialeinheit, wurde im Februar 2022 zu einer Übung an die Grenze zur Ukraine geschickt. Er stammt aus einer armen Familie und die Armee bot dem jungen Mann sozialen Aufstieg.

"Wir haben gehofft und geglaubt, dass es keinen Krieg geben wird", erinnert sich der junge Mann an den Februar 2022. "Wir dachten, Putin ist ein Mörder und ein Dieb, aber doch kein Fanatiker, der einen Krieg beginnen würde. Aber es stellte sich anders heraus", sagt Jewgenij.

Gespräch mit Jewgenij per Videoanruf
Gespräch mit Jewgenij per VideoanrufBild: N. Smolentzewa/DW

Am 24. Februar überquerte er mit seiner Einheit die Grenze zur Ukraine. Sie kam bis Browary bei Kiew. "Für uns war alles sehr traurig. Am 30. März kam fast eine ganze Kompanie um", sagt er über die Kämpfe. "Als wir in der Nähe von Kiew waren, haben wir keine Gefangenen genommen, weil es keine Möglichkeit gab, sie nach Russland zu bringen, also wurden sie getötet." Die ukrainische Seite habe das genauso gehandhabt, sagt er. 

Jewgenij versichert, dass er selbst an den Tötungen nicht beteiligt war. "Ich bin bereit, mich vor Gericht zu verantworten. Mein Gewissen ist rein. Ja, ich habe gekämpft, ja, ich habe geschossen, aber man hat auch auf mich geschossen und auch ich will leben", sagt er.

Furcht vor Auslieferung an Russland

Nach der gescheiterten russischen Offensive bei Kiew wurde Jewgenijs Einheit in den Donbass verlegt. Um von dort wegzukommen, schoss er sich ins Bein. "Wir haben uns in der Nähe der ukrainischen Stellungen gegenseitig verletzt und gesagt, die Ukrainer hätten auf uns geschossen. Man hat uns geglaubt und uns in ein Krankenhaus nach Russland gebracht", so Jewgenij.

Viktor wurde Mitte August 2022 beurlaubt. Zurück in seiner Kaserne versuchte er, zu kündigen, doch er schaffte es nicht mehr vor Bekanntgabe der Mobilmachung. Beide Offiziere flohen schließlich nach Kasachstan. Da in Russland gegen sie Strafverfahren laufen, bekommen sie dort keine offizielle Anstellung, sogar SIM-Karten und Bankkonten müssen sie auf Namen anderer Personen laufen lassen. Zudem befürchten sie, Kasachstan könnte sie an Russland ausliefern. 

Bitte um humanitäre Visa für russische Deserteure

"Ich sehe für mich drei Möglichkeiten: Frankreich, Deutschland oder die USA. Denn diese Länder stellen vorläufige Reisedokumente aus. Schließlich hat keiner von uns einen Reisepass", sagt Viktor. Er hat schon mehrmals Kontakt zu den Botschaften dieser und anderer westlicher Länder aufgenommen, allerdings bisher ohne Erfolg.

"Im Mai 2022 hat das deutsche Bundesinnenministerium gesagt, dass Deserteure aus der russischen Armee einen Flüchtlingsschutz erhalten, weil davon auszugehen ist, dass ihre Desertion als politische Handlung gegen den Krieg verstanden wird und deswegen die Verfolgung auch eine politische Verfolgung darstellt", sagt Rudi Friedrich, Geschäftsführer von Connection e.V. Der Verein mit Sitz in Offenbach setzt sich international für Kriegsdienstverweigerer ein. Gemeinsam mit anderen NGOs fordert er das Europäische Parlament und die EU-Mitgliedstaaten auf, diejenigen zu schützen, die sich weigern, für Putin zu kämpfen. So sollten ihnen beispielsweise humanitäre Visa ausgestellt werden.

Denn einen Asylantrag kann man nur in Deutschland selbst stellen. Aber ohne Reisepass und Visum sei dies für Deserteure nahezu unmöglich, so Friedrich. Er findet, dass diejenigen, die ein hohes persönliches Risiko eingehen, nicht kämpfen und sich nicht an den Verbrechen dieses Krieges beteiligen wollen, Schutz verdienen.

Wege für russische Deserteure nach Europa

Wassilij ist einer der ersten Deserteure, der auch ohne Reisepass von Kasachstan nach Europa kommen konnte. Dem jungen Mann gelang es, einen Job als Programmierer in einem IT-Unternehmen in Deutschland zu bekommen. Die deutsche Botschaft in Kasachstan stellte ihm einen vorläufigen Reiseausweis für Ausländer mit einem Arbeitsvisum aus. Es sei nicht einfach gewesen, ein Unternehmen zu finden, das einen Deserteur ohne Reisepass akzeptiert, gibt Wassilij zu. Aber es sei noch viel schwieriger gewesen, Kasachstan zu verlassen.

Kasachstan - Stadtansicht Astana
In der kasachischen Hauptstadt Astana hatten Wassilij und Viktor vorübergehend Zuflucht gefundenBild: Valery Sharifulin/TASS/dpa/picture alliance

Beim ersten Versuch sei er wieder aus dem Flugzeug herausgeholt worden, weil er in der internationalen Fahndungsdatenbank gefunden worden sei. Wassilij erzählt, wie seine fünfjährige Tochter zu allen Grenzbeamten gelaufen sei und gebeten habe, "Papa herauszulassen". Am nächsten Tag sei es dank seinem Anwalt Yernar Koshanov gelungen, ausreisen zu können. "Es zeigte sich, dass es gewisse Bedingungen gibt, unter denen das möglich ist", sagt Wassilij, ohne Einzelheiten zu nennen: "Es gibt einen Ausweg."

Jetzt lebt er sich bereits in Deutschland ein und erzählt begeistert von seinem neuen Job. Wassilij entwickelt Spiele. Er ist Deutschland für die Ausstellung des Visums und Kasachstan für die letztendliche Ausreisegenehmigung dankbar. Trotz der Risiken für seine Familie beschloss er, seine Geschichte der Desertion öffentlich zu machen, damit auch andere eine Chance bekommen, diesem blutigen Krieg zu entkommen.

"Ich sage allen Deserteuren, allen, die an der Front sind und verzweifelt sind: Alles ist möglich. Ihr müsst nicht kämpfen und gegen euer Gewissen handeln. Ihr könnt euch weigern, euch an diesen Verbrechen zu beteiligen", so Wassilij.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk