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Politik

Nichtwähler bei Bundestagswahl stärkste Fraktion?

25. August 2017

Schon 2009 waren die Nichtwähler genau genommen die stärkste Fraktion vor dem Wahlsieger Union. Nun könnte sich dies wiederholen. Wer sind diese Menschen?

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Deutschland Nach der Bundestagswahl Nichtwähler demonstrieren vor dem Reichstag
Bild: picture-alliance/dpa

Werner Peters hat einen radikalen Vorschlag: Der langjährige Vorsitzende der "Partei der Nichtwähler" will, dass selbst jene Menschen im neuen Bundestag repräsentiert sind, die der Wahl fernbleiben. Entsprechend der Stimmenzahl der Nichtwähler sollen Bürger per Los ins Parlament entsandt werden, die sich nicht mit einer Partei identifizieren. Die Idee passt zu Peters, denn er hatte auch den Einfall, eine "Partei der Nichtwähler" zu gründen. 1998 hob der Kölner Philosoph die Partei mit dem paradoxen Namen aus der Taufe - und nahm direkt mit ihr an der Bundestagswahl teil.

"Schon damals waren die Parteien wie versteinert, vor allem die CDU", erinnert sich Peters im DW-Interview. "Der Union gelang es nicht, Helmut Kohl aus dem Sattel zu heben, obwohl offensichtlich war, dass er die Wahl verlieren würde." Der heute 76-Jährige war zuvor nach über zwei Jahrzehnten Mitgliedschaft aus der CDU ausgetreten. Er wollte den frustrierten Bürgern mit der "Partei der Nichtwähler" eine Alternative anbieten. "Unsere Forderungen: Mehr direkte Demokratie, Abschaffung des Fraktionszwangs und Begrenzung der Mandatsdauer. Damit wollten wir die Demokratie wiederbeleben", so Peters.

Werner Peters, Gründer der "Partei der Nichtwähler"
Philosoph mit radikalen Ideen: Nichtwähler Werner PetersBild: DW/O. Pieper

Peters trifft damit auch heute noch bei vielen Deutschen einen Nerv. Dabei sind die Nichtwähler eine alles andere als heterogene Gruppe. Peters zählt auf: "Zum einen gibt es diejenigen, die relativ gleichgültig sind und die sich nicht für Politik interessieren. Dann gibt es das abgehängte Prekariat. Diese Gruppe hat die Wahlen in den USA entschieden, indem es Trump gelungen ist, Menschen, die sich sagen, was habe ich denn mit Politik zu tun, an die Wahlurnen zu bringen." 

"Das System muss sich ändern"

Besonders interessiert sich der Parteiengründer für die dritte Gruppe. Das seien jene, die sich sagen, die großen Probleme unserer Gesellschaft würden nicht angepackt. Man wurschtele so vor sich hin. Dieses System müsste sich ändern, aber das tue es nicht, so Peters. "Dabei ist es völlig gleichgültig, ob ich heute die FDP und morgen die CDU und übermorgen die SPD wähle. Die Linke ist mir zu konfus und die AfD kann ich nicht wählen - also gehe ich halt´ nicht zur Wahl." 

Als aktuelles Beispiel für den seiner Meinung nach fragwürdigen Umgang der Politik mit Problemen verweist Peters auf den Dieselskandal: "Die Bürger werden nicht mehr repräsentiert. Repräsentiert werden die Automobilfirmen. Wenn wir weiterhin für dumm verkauft werden, läuft diese Politik irgendwann vor die Wand. Und da ist massive Wahlenthaltung die einzige Möglichkeit, diesen Protest deutlich zu machen", folgert Peters.  

Stimmenthaltung in Deutschland im Trend

91,1 Prozent betrug die Wahlbeteiligung noch bei der Bundestagswahl 1972; bei den vergangenen beiden Bundestagswahlen 2009 und 2013 nahmen dann nur noch 70,8 respektive 71,5 Prozent der Bürger ihr Stimmrecht wahr. Für den Parteienforscher Manfred Güllner vom Forsa-Institut eine besorgniserregende Entwicklung: "Die Parteien schließen die Ohren und wollen gar nicht hören, dass so viele Menschen den Wahlen fernbleiben - auch dass die Entwicklung in Deutschland seit Anfang der 1980er Jahre so stark in Richtung Wahlenthaltung geht wie sonst nur noch in Portugal", kritisiert Güllner gegenüber der DW. Ein Positivbeispiel sei dagegen der nördliche Nachbar Dänemark: "Dort sind bei den letzten Parlamentswahlen 85 Prozent zur Wahl gegangen. Sogar bei der letzten Kommunalwahl in Dänemark haben mehr Menschen gewählt, als bei der letzten Bundestagswahl in Deutschland 2013."

Forsa-Chef Manfred Güllner
Warnt vor Politikverdossenheit: Parteienforscher Manfred GüllnerBild: picture-alliance/dpa

Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung untersuchte das Meinungsforschungsinstitut Forsa die deutschen Nichtwähler. Dabei kamen erstaunlicheSelbsteinschätzungen ins Forsa-Protokoll: "Wir sind keine Nichtwähler. Wir möchten ja wählen. Wir sind Wähler auf Urlaub. Wir warten darauf, dass wir wieder wählen können." Wer so denkt, gehört für den Parteienforscher Güllner zu den so genannten sporadischen Nichtwählern: "Diese wollen ja nicht radikal wählen, die wählen nicht AfD, die Ränder. Sondern sie wollen die normalen Parteien wählen." Dabei bestünde die Gefahr, dass sie auch den kommenden Wahlen fernblieben und damit dann zu Dauer-Nichtwählern würden, so Güllner. 

Verständliche Sprache

Ein simples Rezept dagegen wäre zum Beispiel eine einfache, verständliche Sprache der politischen Akteure. "Die Nichtwähler beklagen zum Beispiel, dass man nicht von der Großen Koalition redet, sondern von Groko. Man muss auch nicht von R2G reden, wenn man Rot-Rot-Grün meint als Koalition. So wie man auch nicht dauernd von Hotspots statt von Problempunkten reden muss." Auch hier hat Güllner ein Positiv-Beispiel: Alt-Kanzler Helmut Schmidt habe bis ins hohe Alter eine einfache Sprache gepflegt. Bei ihm habe man das Gefühl gehabt, "er kann die Welt in drei Sätzen erklären."

Martin Schulz vor einer Herkulesaufgabe

Könnte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz die Wahl noch drehen? Manfred Güllner will dies nicht kategorisch ausschließen und erinnert an historische Vorbilder: "Anfang 1994 dachte man, Kohl wird abgewählt im Oktober. Dann hat er aus dem Lager der Unentschlossenen eigentlich alle früheren CDU-Wähler wieder zurückgeholt und blieb Kanzler." Die Ausgangssituation für Schulz und die SPD bewertet Güllner aber als wesentlich schwieriger: "Wir haben 2017 schon eine große Mobilisierung, die eingetreten ist durch die drei Landtagswahlen und auch durch die Nominierung von Schulz." Die Reserven für die SPD seien deshalb deutlich geringer als dies bei den Wahlen zuvor der Fall war.

28,5 Prozent gaben vor vier Jahren keine oder eine ungültige Stimme ab, die Union bekam auf alle Wähler bezogen somit nur eine hauchdünne Mehrheit mit 29,7 Prozent. Was, wenn die Nichtwähler nun sogar "gewinnen" und die Wahlbeteiligung möglicherweise unter 70 Prozent sinkt? Dann müsste sich die Politik ernsthaft Gedanken machen, sagt Manfred Güllner - und nennt das warnende Beispiel der Oberbürgermeisterwahl von Köln vor zwei Jahren: "Da fällt die Kandidatin Henriette Reker einem Attentat zum Opfer, wird dabei  schwer verletzt. Doch selbst unter dem Eindruck eines so dramatischen Ereignisses wählen nur knapp über 40 Prozent! Das sollte tatsächlich zu denken geben, weil als Konsequenz den Lokalpolitikern natürlich auch die Legitimation fehlt."

Tatort des Attentats auf Henriette Reker 2015 mit Wahlplakat
Apathie trotz Attentat: Kommunalwahl in Köln 2015Bild: picture-alliance/dpa/F. Gambarini

Nichtwähler als Trumpf für die Kanzlerin              

Werner Peters Partei der Nichtwähler wurde übrigens im Dezember 2016 nach fast 20 Jahren aufgelöst. Am Ende waren es nur noch acht engagierte Mitstreiter. In ihren besten Zeiten zählte die Partei immerhin 300 Mitglieder. Doch Peters will weiter kämpfen - zunächst einmal für die Stimmenthaltung: "Angela Merkel wird sowieso gewählt, das ist doch völlig klar. Und das ist mit einer der Gründe, warum ein Aufruf zur Wahlverweigerung Sinn macht. Die Wahl ist gelaufen."

Dass der engagierte Nichtwähler die Wiederwahl von Kanzlerin Merkel ein Stück weit wahrscheinlicher macht, weil er seine Stimme der Opposition vorenthält, nimmt Peters in Kauf: "Klar: diese Frau verkörpert eine gewisse Ruhe, Solidität und Stabilität. Aber auf der anderen Seite hat sie absolut keine Vorstellung davon, wie es weitergehen soll. Sie lebt dieses System und sie kommt sehr gut damit zurecht. Aber sie ist die Einäugige unter den Blinden."

Datenvisualisierung Wahlbeteiligung/Voter Turnout
Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur