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Nie wieder abwärts

Olaf S. Müller3. April 2013

Lange Zeit galt Sangerhausen nach der Wende als Hauptstadt der Arbeitslosigkeit in Deutschland. Doch die Stadt hat die rote Laterne von Sachsen-Anhalt längst abgegeben und will heraus aus der Verliererecke.

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Straße in Sangerhausen Foto: Olaf S. Müller (DW)
Bild: DW/Olaf S. Müller

Bong, bong, bong. Die Glocke klingt immer noch wie in den 1940er Jahren. Erich Hartung zieht dreimal an dem Signalseil, langsam setzt sich der Fahrkorb in Bewegung, Meter um Meter wird die Luft feuchter, zuerst kühler, dann wieder wärmer. Zwei Minuten dauert die Fahrt in der Dunkelheit auf 283 Meter Tiefe. "Ich bin jedes Mal wieder glücklich, wenn es abwärtsgeht", sagt Hartung.

Der 60-Jährige ist immer noch Bergmann mit ganzem Herzen - auch wenn er heute als Museumsleiter nur noch Touristen durch den Röhrigschacht führt. 30 Jahre hat er in Sangerhausen unter Tage gearbeitet - bis 1989. Dann kam die Wende und damit das Aus für den kommerziellen Kupferschieferbergbau in Sangerhausen.

Das Ende einer Ära

Die Bergwerke wurden geschlossen, die Schächte geflutet, für Tausende Arbeiter gab es nichts mehr zu tun. 40.000 Männer hatten in Sangerhausens Blütezeiten in den Stollen gearbeitet. Zum Schluss waren es immerhin noch 7000, die mit einem Mal auf der Straße standen. Mit Sangerhausen ging es immer weiter abwärts. Bald kannte man es nur noch als "Hauptstadt der Arbeitslosigkeit" in Deutschland. Bei 30 Prozent lag die Quote zu den schlimmsten Zeiten.

Einfamilienhäuser und Neubaublöcke aus DDR-Zeiten vor der Abraumhalde "Hohe Linde" vor den Toren der Stadt Sangerhausen im Südharz Foto: Jan Woitas (dpa)
Relikt der Bergbau-Ära: Die Abraumhalde "Hohe Linde" prägt bis heute das Stadtbild von SangerhausenBild: picture-alliance/dpa

"Die Depression unter den Leuten, das war das Schlimmste", sagt Dieter Kupfernagel. Er war damals Bürgermeister und versuchte, abzufedern, was ging. Die Journalisten gaben sich die Klinke in die Hand, jeder wollte eine Elendsgeschichte über die Hauptstadt der Arbeitslosigkeit. Sangerhausen, so Kupfernagel, hatte den Stempel "Hoffnungslos".

Trendwende mit Fahrrädern

"Um sich davon zu erholen, braucht man nicht Jahre, sondern vermutlich Jahrzehnte. Was sich in manchen Familien abgespielt hat, war schrecklich", sagt Peter Wicht. 1996 kaufte er die MIFA, die Mitteldeutschen Fahrradwerke, ein Traditionsunternehmen, das in den 1920er Jahren sogar einen eigenen Rennstall unterhielt. Erstmals wurde wieder etwas aufgebaut.

Zu DDR-Zeiten arbeiteten dort 1200 Menschen, nach der Wende kauften zwei Schweizer den Betrieb, allerdings ohne wirtschaftlichen Erfolg. Als Peter Wicht das Unternehmen übernahm, war es fast bankrott. Gerade einmal 45 Mitarbeiter hatte der Fahrradhersteller da noch.

Fabrikhalle der MIFA, der Mitteldeutschen Fahrradwerke AG in Sangerhausen Foto: Olaf S. Müller (DW)
MIFA: Erfolgreiche FahrradschmiedeBild: DW/Olaf S. Müller

Wicht besorgte sich Kredite und erwarb den maroden Betrieb für 750.000 D-Mark. "Ich konnte auf ein Riesenreservoir von qualifizierten Fachkräften in Sangerhausen zurückgreifen", sagt er. "Das war ein enormer Vorteil".

Um gegen die Konkurrenz - vor allem aus China - zu bestehen, machte er die Produktion effizienter und optimierte den Einkauf von günstigen Bauteilen für Fahrräder aus aller Welt. In Sangerhausen lässt er alles zusammenbauen. Heute gehört die MIFA zu den führenden Unternehmen der Region, beschäftigt zu Spitzenzeiten mehr als 1000 Mitarbeiter und hat einen Börsenwert von fast 70 Millionen Euro.

Rosige Zeiten

Die Umbruchszeit verbindet Kupfernagel und Wicht. Beide sind 1996 gestartet. Der eine als Bürgermeister, der andere als Unternehmer. Die MIFA war die eine Hoffnung des Politikers, das Rosarium die andere. Die größte Rosensammlung der Welt ist noch so ein Beispiel für eine wiederbelebte Tradition, auf die man hier setzt. Im Hintergrund thront noch die riesige Abraumhalde, die "Hohe Linde", das Symbol der Bergbauvergangenheit.

Peter Wicht (links) und Dieter Kupfernagel Foto: Olaf S. Müller (DW)
Schätzen sich: Peter Wicht (links) und Dieter KupfernagelBild: DW/Olaf S. Müller

Rund 80.000 Rosen gibt es hier. Was vor der Wende vor allem Forschungszwecken diente und Rosenexperten anzog, wird heute auch vermarktet, um der Stadt zusätzliche Einnahmen zu sichern. Auf der Rosenbühne direkt neben dem Botanischen Garten finden Konzerte statt und Public Viewing für Großveranstaltungen.

Ausgedacht hat sich das alles Uwe Schmidt, der Marketingleiter des Gartens. "Wir wollen möglichst viele Besucher anlocken." 120.000 sind es schon jetzt jährlich, aber es sollen noch mehr werden. Wissenschaft mit Tourismus verbinden, Lehrführungen, populärwissenschaftliche Vorträge - darin sieht Uwe Schmidt noch großes Potenzial.

Tourismus als Chance

Die Rote Laterne in Sachen Arbeitslosigkeit hat die Stadt abgegeben. Aber mit 14 Prozent liegt sie immer noch zu hoch. "Wichtig ist der Tourismus", sagt der jetzige Bürgermeister Ralf Poschmann. Aber das sei nur ein weicher Standortfaktor, der nicht genügend Arbeitsplätze bringe. Er will deshalb, dass sich noch mehr Industrie ansiedelt. Dafür hat er einen 260 Hektar großen Industriepark ausgewiesen.

Fachwerkhäuser am Marktplatz in Sangerhausen (Südharz) Foto: Jan Woitas (dpa)
Altstadt unter Denkmalschutz: Marktplatz in SangerhausenBild: picture-alliance/dpa

Erich Hartung, der Ex-Bergmann, sieht große Chancen durch den Tourismus. Aus seinem Schaubergwerk möchte er ein Kompetenzzentrum für den Erzbergbau machen. Doch die gesamte Region brauche eine gemeinsame Vermarktung: “Der Kyffhäuser, der Harz, die Himmelscheibe von Nebra, all das liegt ganz in der Nähe. Das muss man nutzen, um Sangerhausen touristisch nach vorn zu bringen." Als alter Bergmann packt Hartung an. "Gerade im Tourismus muss man klotzen, nicht kleckern", sagt er.