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Niger: Angst vor Terror - und dem Militär

Silja Fröhlich
11. September 2020

Ein neues Massengrab im Niger mit mindestens 71 toten Zivilisten ist leider kein Einzelfall: In der Sahelzone verletzen Soldaten immer wieder Menschenrechte. Die strukturellen Ursachen dafür sind vielfältig.

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Niger Armee | bewaffnete Truppe
Nigrische Soldaten auf Patrouille in der Wüste bei IferouaneBild: AFP/S. Ag Anara

Sie wurden misshandelt, erschossen und begraben: Mindestens 71 Zivilisten wurden in den vergangenen Wochen in sechs Massengräbern im Niger entdeckt, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, der Schädel eingeschlagen. Untersuchungen zufolge stecken Einheiten der nigrischen Armee hinter den Massenhinrichtungen.

Die nigrische Regierung zog im März die Reißleine, als 102 Nigrer verschwanden. Eine Untersuchung der Nationalen Menschenrechtskommission des Nigers (CNHD) ergab, dass einzelne Gruppen innerhalb der Streitkräfte in der Region Tillabéri verantwortlich für die Morde waren. Die Armee insgesamt sei jedoch unschuldig. Der Bericht wurde Ende Juli an Präsident Mahamadou Issoufou übergeben, der ihn für eine Untersuchung an das Verteidigungsministerium weiterleitete.

Verschwunden und hingerichtet

Die Situation im Niger ist kein Einzelfall: Die UN-Mission in Mali (MINUSMA) warf der malischen Armee im April vor, zwischen Januar und März 101 Menschen ohne ein Gerichtsverfahren hingerichtet zu haben. Im ersten Quartal 2020 wurden insgesamt 589 Menschenrechtsverletzungen in Mali dokumentiert, so die MINUSMA. Auch nigrische Soldaten, die im Rahmen einer G5-Mission in Mali stationiert sind, haben sich dort etwa 30 außergerichtlicher Hinrichtungen schuldig gemacht.

Im Juni warf die Menschenrechtsorganisation Amnesty International den Armeen von Mali, Niger und Burkina Faso vor, sie hätten innerhalb von ein paar Monaten fast 200 Menschen verschwinden lassen. Ihre Soldaten "säen Terror und begehen unter dem Deckmantel von Anti-Terror-Einsätzen Blutbäder in Dörfern", hieß es in dem Amnesty-Bericht.

Burkina Faso Dori | Binnenvertriebene
Die Sicherheitslage in Burkina Faso hat sich zuletzt verschlechtertBild: Getty Images/AFP/O. de Maismont

Die Militärs kämpfen seit 2012 südlich der Sahara gegen Milizen, die mit der Al-Kaida und dem sogenannten Islamischen Staat in Verbindung stehen. Der Konflikt hat schon Tausende das Leben gekostet, viele sind aus ihrer Heimat geflohen.

Trainingsdefizit bei den Armeen

Für Seidik Abba, Journalist und Sahelspezialist, sind die Morde der Beweis, dass die Armeen überfordert sind. ''Unsere Armeen sind nicht für den Kampf gegen den Terrorismus ausgebildet worden. sondern für die konventionelle, klassische Kriegsführung", so Abba im DW-Interview. "Es gibt ein Trainingsdefizit. Dazu kommen dieschweren Verluste, die sie erlitten haben. Es gibt eine Logik der Rache."

"Sie wollen nicht getötet werden, deshalb gehen sie auch keine Risiken ein, das ist die Realität in diesen Gebieten", erklärt Abdoulaye Sounaye, leitender Forscher am Leibniz-Zentrum in Berlin. "Es gab Fälle, in denen sie von Menschen angegriffen wurden, denen sie vertrauten."

Mali Koulikoro Armee
Diese malischen Soldaten werden im Rahmen der europäischen EUTM-Mission ausgebildetBild: picture-alliance/dpa/A.I. Bänsch

Die Europäische Union ist seit 2012 in der Sahelregion vor Ort, um durch Beratung, Ausbildung und Mentoring militärische Unterstützung zu leisten. Die Bundeswehr ist an der European Training Mission (EUTM) und der MINUSMA in Mali beteiligt, das Mandat wurde Mai sogar auf die weiteren G5-Sahel-Staaten ausgeweitet.

Sensibilisierung für Menschenrechte: ungenügend

Ausbildungsmaßnahmen der EUTM Mali beinhalten nach Angaben des Auswärtigen Amts auch Schulungen zu den Themen humanitäres Völkerrecht, Schutz der Zivilbevölkerung und Menschenrechte.

Die Abgeordnete Hama Assah, Mitglied des Verteidigungs- und Sicherheitsausschusses der Nationalversammlung im Niger, bestätigt, dass die Soldaten für Menschenrechte sensibilisiert werden. "Sie wissen um die Menschenrechte und schützen sie", so Assah im DW Interview. "Wir haben derzeit viele Gefangene. Wenn wir die Menschenrechte nicht respektieren würden, würden wir keine Gefangenen nehmen, weil es eine Belastung für uns ist."

Burkina Faso | Übung Truppen aus Afrika
Soldaten der Sahelstaaten arbeiten häufig zusammen - hier bei einer Militärübung 2019Bild: picture-alliance/Zuma/Planet Pix/D. White

Das Defizit in der Ausbildung sei offensichtlich, so Lukas Granrath, Experte für Niger und Burkina Faso bei Amnesty International Deutschland. "Die EU sagt, dass sie viel Arbeit in die Menschenrechtsausbildung steckt. Wir wissen nicht, wie das gemacht wird, oder ob es ernst genommen wird. Eine Bedingung für die Zusammenarbeit mit dem Militär des Nigers sollte sein, dass sie die Menschenrechte akzeptieren und beschützen."

Nigers Militär zwischen Macht und Überforderung

Die Armee in Niger habe "große Macht und Einfluss", und trotz kritischer Stimmen hohen Zuspruch in der Zivilgesellschaft, so Sounaye. Seit 1999 steht das Militär unter ziviler Kontrolle, davor war der Niger 21 Jahre lang ein Militärregime. Doch wie in vielen anderen westafrikanischen Staaten entziehe sich das Militär der zivilen Kontrolle.

"In der Verfassung heißt es, dass immer dann, wenn der Ausnahmezustand eintritt, die Sicherheitskräfte die Macht übernehmen. In solchen Situationen können alle Arten von Verbrechen begangen werden", sagt Sounaye.

Wer ist der Feind?

"Es schafft ein Klima des Misstrauens gegenüber der Armee", so Moussa Tchangari, Generalsekretär des Alternative Espace Citoyen. Menschen hätten nun das Gefühl, dass sie sowohl von Dschihadisten als auch von regulären Soldaten getötet werden könnten. "Das macht den Menschen Angst, und sie werden am Ende nicht mehr wissen, an wen sie sich noch wenden können." Als erster Schritt müsse das Vertrauen der Zivilgesellschaft wiederhergestellt werden.

Niger Armee | Attentat auf ACTED Hilfsorganisation
Nigrische Soldaten untersuchen im August 2020 ein Auto einer Hilfsorganisation, auf das ein Anschlag verübt wurdeBild: AFP/B. Hama

Hinzu komme, dass das nigrische Militär unter hohem Erfolgsdruck stehe, so Granrath. Bisher hatte die Armee eine Verwicklung in Hinrichtungen stets bestritten. Die aktuellen Untersuchungen seien ein für den Niger neuer Schritt und es bleibe abzuwarten, wie die Regierung auf die Ergebnisse regieren wird.

Trotz zivilen Zuspruches würde die Untersuchung jedoch auch kritisiert, so Sounaye. Die Befürchtung: Wenn ein Bericht Fehler der Truppe offenlege, sinke ihr Ansehen in der Bevölkerung. Dagegen helfe Transparenz: "Es bleibt zu hoffen, dass dies einen positiven Einfluss darauf hat, wie sich die Soldaten in Zukunft verhalten."