1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

No-Deal-Brexit: Alles halb so wild?

18. August 2019

Ein geleakter Bericht zeigt: Bei einem No-Deal-Brexit rechnet die britische Regierung mit einem Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten und Benzin. Doch das sei nur ein "Worst-Case-Szenario", beschwichtigt die Regierung.

https://p.dw.com/p/3O52x
Boris Johnson
Großbritanniens Premierminister Boris Johnson will das Land aus der EU führenBild: Getty Images/J. Tallis

Die "Sunday Times" veröffentlichte die Regierungsdokumente, die sich mit den Folgen eines No-Deal-Brexit beschäftigen. Das Dossier mit dem Titel "Yellowhammer" wurde den Angaben zufolge vom Cabinet Office zusammengestellt. Das Büro soll den Premierminister und die Minister in ihrer Arbeit unterstützen. Laut des Berichts könnten nicht nur Produkte des täglichen Bedarfs zur Mangelware werden. Es könne auch zu einem mehrmonatigen Zusammenbruch in den Häfen, einer harten Grenze zu Irland und steigenden Sozialkosten kommen.

Zollkontrollen und Megastaus von Lastwagen in Südengland hätten demnach zur Folge, dass weniger frische Lebensmittel vom europäischen Festland nach Großbritannien eingeführt werden könnten. Britische Patienten müssten länger auf Arzneimittel wie Insulin und Impfstoffe gegen Grippe warten. Ein ungeregelter Ausstieg würde auch zu Verzögerungen für Passagiere an EU-Flughäfen, im Eurotunnel und in der Hafenstadt Dover am Ärmelkanal führen, wie die "Sunday Times" weiter berichtete. 

Großbritannien London | Neuer Premierminister Boris Johnson spricht im britischen Unterhaus
Premierminister Boris Johnson: Brexit am 31. Oktober, "komme, was wolle"Bild: Reuters TV

Es handele sich um eine "realistische Einschätzung" dessen, was die Öffentlichkeit im Falle eines "No Deal" erleben werde, zitierte die Zeitung eine nicht näher genannte Regierungsquelle. Diese Szenarien seien sehr wahrscheinlich und "nicht der schlimmste Fall".

Brexit, "komme, was wolle"

Michael Gove, Staatssekretär für Kabinettsangelegenheiten in der neuen Regierung von Premierminister Boris Johnson, widersprach sofort. "Normalerweise kommentieren wir keine Leaks", schrieb der Politiker auf Twitter. Und fügte hinzu: "Yellowhammer ist ein Worst-Case-Szenario." In den vergangenen drei Wochen seien "wichtige Schritte" gemacht worden, um die Brexit-Planung voranzubringen.

Es wird immer wahrscheinlicher, dass Großbritannien ohne Abkommen aus der EU ausscheidet. Der britische Premierminister Boris Johnson will das Land zum Ablauf der Brexit-Frist Ende Oktober aus der Staatengemeinschaft führen, "komme, was wolle". Sollte sich die EU nicht auf Nachverhandlungen zum mit seiner Vorgängerin Theresa May ausgehandelten Brexit-Vertrag einlassen, will Johnson notfalls ohne Deal ausscheiden. Während seiner Bewerbung um den Tory-Parteivorsitz hatte Johnson daher eine Auflösung des Unterhauses nicht ausgeschlossen, um einen ungeregelten Brexit notfalls am Parlament vorbei durchzusetzen.

"Stehen vor nationalem Notstand"

Mehr als hundert Abgeordnete haben den britischen Premierminister Boris Johnson daher aufgefordert, das Parlament sofort für Beratungen über den Brexit aus der Sommerpause zurückzurufen. "Unser Land steht am Rand einer Wirtschaftskrise, da wir auf einen Brexit ohne Abkommen zurasen", heißt es in einem Brief der Abgeordneten. "Wir stehen vor einem nationalen Notstand und das Parlament muss jetzt zurückgerufen werden." Unterzeichnet haben ihn unter anderem der ehemalige Generalstaatsanwalt Dominic Glieve, sowie die ehemalige Labour-Abgeordnete und jetzige Politikerin der Independent Group, Luciana Berger, die in einem Tweet auf die Dringlichkeit verwies. 

Das britische Parlament kommt eigentlich erst am 3. September aus der Sommerpause zurück. Kurz danach wird es noch einmal eine Sitzungspause geben, in der die britischen Parteien traditionell ihre Jahresparteitage abhalten. Die Abgeordneten fordern zudem dazu auf, bis zum Austrittsdatum am 31. Oktober keine Sitzungspause mehr einzulegen.

Jeremy Corbyn als Retter der No-Deal-Gegner?

Eine Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus will den No-Deal-Brexit zwar verhindern, doch es herrscht keine Einigkeit darüber, wie das gelingen soll. Labour-Chef Jeremy Corbyn hatte sich selbst als Interims-Premier vorgeschlagen und wollte eine Revolte gegen Johnson anzetteln. Sein Vorschlag stieß jedoch auf viel Kritik. Am Wochenende warnte er, Großbritannien steuere auf eine "Katastrophe" zu.

Labour Partei Mitglieder verlassen Partei Großbritannien
Abgeordnete im Unterhaus Luciana BergerBild: Reuters/S. Dawson

Corbyn hatte vorgeschlagen, als Übergangspremier das Steuer zu übernehmen, um einen EU-Austritt ohne Abkommen zu verhindern. Der 70-Jährige rief die Oppositionsparteien und Tory-Rebellen dazu auf, Johnson mit einem Misstrauensvotum aus dem Amt zu drängen. Als Premier würde Corbyn den Brexit hinauszögern, eine Neuwahl ausrufen und ein neues Referendum über die EU-Mitgliedschaft auf den Weg bringen wollen. 

Fast jeder zweite Brite würde sich einer Umfrage zufolge lieber für einen ungeregelten Brexit entscheiden, als dass Corbyn Übergangspremier wird. Nur ein Drittel der Befragten (35 Prozent) sprach sich für Corbyn aus. 48 Prozent würden der YouGov-Umfrage zufolge einen EU-Austritt ohne Abkommen bevorzugen. 17 Prozent der insgesamt 1968 Befragten waren unschlüssig. 

Zerstrittene Opposition

Auch der Alterspräsident des Unterhauses, Ken Clarke, bot sich als Übergangspremier für eine Notregierung an. Wenn es der einzige Weg wäre, um einen No Deal zu verhindern, "würde ich es nicht ablehnen", sagte der ehemalige konservative Finanzminister (1993-97) der BBC. Der 79-Jährige reagierte damit auf einen Vorschlag der liberalen Parteichefin Jo Swinson, die Corbyn für die Rolle abgelehnt hatte. Der proeuropäische Clarke genießt überparteilich großen Respekt. 

UK Michael Gove
Schnelle Reaktion: Regierungsmitglied Michael Gove versucht zu beruhigenBild: Reuters/P. Nicholls

Um einen No-Deal-Brexit noch zu verhindern, wäre es auch denkbar, dass die Abgeordneten der Regierung die Kontrolle über den Parlamentskalender entreißen und eine Verlängerung der Brexit-Frist per Gesetz erzwingen. Aber auch bei dieser Option wäre es nötig, dass sich die zerstrittene Opposition mit Rebellen aus der Regierungsfraktion auf ein gemeinsames Vorgehen einigt.

Johnson auf Europa-Tour

Johnson wird in den kommenden Tagen ins Ausland reisen und trifft am Mittwoch Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin. Die Bundesregierung bedauere die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. "Aber wir müssen auch die Realitäten zur Kenntnis nehmen." 

Am Donnerstag ist nach Angaben der Downing Street ein Treffen Johnsons mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron geplant. Es wird davon ausgegangen, dass der Premier nicht von seiner Haltung abrückt. Auch beim G7-Gipfel vom 24. bis 26. August im französischen Seebad Biarritz werden die Staats- und Regierungschefs Gelegenheit haben, über die Scheidung Großbritanniens von der EU zu reden.

pgr/rb (afp, dpa, rtr)