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Normale Genies

Anna Kuhn-Osius1. August 2008

Hochbegabte - verrückte Einsteins hinter dicken Büchern? Die Realität ist anders: Eine bunte Mischung von Menschen, die beim europäischen Hochbegabten-Treffen lieber Schokolade testen als Formeln rechnen.

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Mensa-Logo. Quelle: Anna Kuhn-Osius
Kluge Köpfe! MENSA ist der Verein für HochbegabteBild: Anna Kuhn-Osius

Was heißt es, hochbegabt zu sein? Michaela, eine zierliche Frau mit großen, braunen Augen zögert. "Dass man neugierig ist, eine schnelle Auffassungsgabe besitzt und sich manchmal wundert, dass andere nicht so schnell hinterher kommen mit den Gedanken", sagt sie. Michaela ist Unternehmensberaterin. Manchmal denke sie einfach eine Gangart zu schnell für ihre Kunden, sagt sie. "Da muss ich mich dann selber bremsen und meine gedanklichen Zwischenschritte erklären, sonst kommt keiner mehr mit."

Landkarte. Quelle: Anna Kuhn-Osius
Aus 20 Ländern sind die Hochbegabten nach Köln gekommen, um sich auszutauschenBild: Anna Kuhn-Osius

"Hochbegabt ist nichts Besonderes", ruft ein Belgier laut. "Ich bin schließlich immer so gewesen!" Er rückt die Schirmkappe auf seinem Kopf zurecht. MENSA steht darauf. MENSA ist der weltweite Verein für Hochbegabte und hat das erste europäische Hochbegabten-Treffen in Köln organisiert. Fast 350 Teilnehmer aus 20 Ländern sind gekommen. Von Donnerstag bis Sonntag (03.08.2008) tauschen sie sich aus, besuchen Seminare zu Themen wie "Warum sind wir nicht alle reich und berühmt?", über die Symmetrie von Röntgenstrahlen oder auch zu traditionellem Volkstanz.

Ganz schön schlau

Julian aus Schleswig-Holstein. Quelle: Anna Kuhn-Osius
Julian ist mit acht Jahren einer der jüngsten TeilnehmerBild: Anna Kuhn-Osius

"Hochbegabt ist, wenn man ganz schön schlau ist", erklärt Julian und grinst. Julian ist acht. "Ein bisschen schlau bin ich auch!", sagt er stolz. Ein bisschen schlau heißt bei ihm: Er hat mit sechs beim IQ-Test 142 Punkte bekommen. Normal ist ein Intelligenzquotient von rund 100 Punkten, ab 130 gilt man als hochbegabt. Bei Julian fiel seiner Mutter auf, dass er schon nach zwei Wochen keine Lust mehr hatte, zur Schule zu gehen. Jeden Tag sei er frustriert nach Hause gekommen und habe sich beschwert: "Was soll das, ich kann das doch alles, das langweilt mich nur!". Gespräche mit der Klassenlehrerin halfen nicht. Sie stempelte Julian als Zappelphilipp ab, vermutete ADS, das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Zu Unrecht, wie der IQ-Test zeigte. Ein Zeitungsartikel brachte Julians Mutter auf die Idee, ihren Sohn testen zu lassen. Mittlerweile hat Julian eine Klasse übersprungen – und plötzlich macht ihm Schule wieder Spaß.

Gescheiterte Schüler

Julian hatte Glück. Viele Hochbegabte sind in der Schule nie entdeckt worden, haben Jahre der tödlichen Langweile hinter sich, wenn sie die Schule verlassen, zweifeln an sich selbst. Auch Michaela, die Unternehmensberaterin aus Süddeutschland, hat als Schülerin nie Hausaufgaben gemacht. Stattdessen lehnte sie sich während des Unterrichts so über das leere Heft, dass die Lehrer nichts merkten. "In dem Moment, wo ich dran war, hab ich in Mathe einfach die Aufgaben schnell durchgerechnet und auswendig geantwortet", sagt sie.

Mathe-Genies?

Christine Warlies. Quelle: Anna Kuhn-Osius
Christine Warlies, Vorsitzende des MENSA-Vereins DeutschlandBild: Anna Kuhn-Osius

Sind also alle Hochbegabten Genies in Mathematik? "Das ist nur ein großes Vorurteil", widerspricht Christine Warlies, Vorsitzende des Mensa-Vereins in Deutschland. Gerade Frauen würden sich oft unterschätzen und denken, nur weil sie nicht gut in Mathe seien, könnten sie nicht hochbegabt sein. "Das ist Quatsch", betont Warlies. "Ich hab schon so oft das Gegenteil erlebt!"

Die Mensa-Mitglieder sind Künstler, Banker und Professoren, Hausfrauen, Arbeitslose, Studenten und Rentner. Zwei Prozent der Bevölkerung gilt Statistikern zufolge als hochbegabt, quer durch alle Bevölkerungsschichten. Der deutsche Mensa-Verein hat rund 7000 Mitglieder – das Potenzial wäre aber viel höher, sagt Warlies. "Bei 80 Millionen Einwohnern in Deutschland haben wir schließlich rund 1,6 Millionen Hochbegabte. Ganz viele Menschen wissen gar nicht, dass sie hochbegabt sind und wundern sich nur, warum sie vielleicht anders ticken als andere."

Hürde IQ-Test

Zwei Menschen diskutieren. Quelle: Anna Kuhn-Osius
Internationaler Austausch der HochbegabtenBild: Anna Kuhn-Osius

Um Mitglied im Mensa-Verein zu werden, gibt es nur eine Hürde: Den IQ-Test machen – und mindestens 130 Punkte bekommen. Die 25-jährige Kat aus Hamburg ist vor einem Jahr durch Zufall auf MENSA gestoßen und fand den Verein spannend. Sie hat es einfach probiert und sich für den IQ-Test angemeldet. "Danach hatte ich nur so ein mittelgutes Gefühl und als dann der Brief kam, dass ich dabei bin, konnte ich es gar nicht fassen! Ich habe vor Freude erstmal alle Leute angerufen, die ich kenne!" erzählt sie begeistert.

Small Talk als größter Feind

Kat hat viele Freunde, fühlte sich wohl in der Schule, der Job in einer Marketingfirma macht ihr Spaß. Das ist nicht typisch für Hochbegabte. Nur ein paar Meter neben ihr steht Nicole, alleine. Sie ist 23 und hat gerade ihr Pharmaziestudium abgeschlossen. Nicole ist nicht nur hochbegabt, sie ist auch Autistin – und fühlt sich dadurch oft wie ein Fremdkörper in ihrer Umgebung. Small Talk hasst sie wie die Pest. "Man kann sich mit mir wahrscheinlich sehr gut über wissenschaftliche Themen unterhalten", sagt sie. "Nur über das Wetter und über Krankheiten und über 'Wie geht es dir?' und 'Wie deiner Oma?' - ach, da komm ich dann oft nicht mehr mit!" Zum Mensa-Kongress ist die zierliche Frau trotzdem gekommen. Hier seien die Menschen toleranter, sagt sie. "Die akzeptieren mich so, wie ich bin. Die Mensaner staunen nicht über jede Eigenart von mir, sondern haben vielleicht selbst einige Eigenarten. Hier falle ich gar nicht mehr so stark auf, wie unter anderen Menschen."

Eine Oase für Andersartige

Der Vorsitzende des schwedischen Mensa-Vereins, Björn Liljeqvist. Quelle: Anna Kuhn-Osius
Nordisches Superhirn: Der Vorsitzende des schwedischen Mensa-Vereins, Björn LiljeqvistBild: Anna Kuhn-Osius

So geht es auch dem 16-jährigen Alexander aus Siegen. In der Schule muss er sich manchmal zurück halten, damit er nicht als Besserwisser gilt. "Hier kann man sich einfach ungestört unterhalten", sagt er.

Kat sagt, sie fühlt sich bei Mensa wie in ihrem Wohnzimmer. "Ich kann einfach aus mir herausgehen, man fühlt sich gleich wie zu Hause."

Genau das soll Mensa sein, sagt Björn, Präsident des schwedischen Mensa-Vereins. Ein Zuhause für Leute, die in der normalen Welt als komisch gelten, den anderen Menschen unheimlich sind, weil sie schneller denken. "Du kommst zu Mensa nicht weil du dich klug fühlen willst, sondern weil du dich einfach mal normal fühlen willst", sagt er. "Wenn dein Körper acht Jahre alt ist, aber dein Geist bereits 15, dann fällst du in der Gesellschaft auf. Mensa ist eine Oase, wo man sich mal nicht anders fühlen muss."

Immer bei der Arbeit

Viele Hochbegabte suchen ein Leben lang sich selbst und was ihnen wirklich Spaß macht. Sie können so vieles gut, dass es schwer ist, das Beste zu finden. Viele wechseln ständing ihren Beruf – oder arbeiten wie verrückt. Alles Workaholics? "Arbeit ist mein Hobby, also wohl ein Hobby-holic", sagt Jerome aus Amsterdam. "Ich kann nicht still sitzen, ich muss immer arbeiten, sonst langweile ich mich."

Der neunjährigen Johanna ist immer langweilig in den Ferien. "Da nehme ich mir dann meine Mathebücher und arbeite da drin schon einfach ein bisschen weiter." Ihre Klassenkameraden könnten überhaupt nicht verstehen, warum sie Mathe so liebt, sagt sie und es klingt ein bisschen traurig. Ihr macht Denken einfach Spaß.

Schokolade testen statt Formeln lernen

Das Mensa-Organisationsteam. Quelle: Anna Kuhn-Osius
Das MENSA-Organisationsteam in letzten BesprechungenBild: Anna Kuhn-Osius

Für das Wochenende in Köln hat aber sogar Johanna ihr Mathebuch zu Hause gelassen: Schokoladentesten steht beim Kongress genauso auf dem Programm wie ein scherzhafter IQ-Vergleich zwischen den Nationen. Und auch Hochbegabte können feiern. Martin aus Norwegen verdaut immer noch die vergangene Nacht: "Ich habe bestimmt 100 Kölsch getrunken", stöhnt er und hält sich den Kopf. Seine Augen hat er hinter einer riesigen Sonnenbrille versteckt. "Heute trinke ich Mineralwasser."

Total normal!

Eines wollen die Mensaner auf jeden Fall klarstellen: Sie sind vielleicht hochbegabt, aber noch lange nicht anders als andere. Denn auch Hochbegabte machen manchmal ganz normale, langweilige Sachen. Michaela zum Beispiel, die hochbegabte Unternehmensberaterin aus Süddeutschland: "Ich gehe gerne ganz langweilig einen Latte Macchiato nach dem anderen trinken, ich lege mich am Samstag Nachmittag auch einfach mal ganz platt in die Sonne, ich gehe gerne ins Kino – ich bin ein völlig normaler Mensch!"